Auch in Verschnaufpausen darf der Atem stocken. Erholung muss nicht langweilig sein. Soll sie unterhaltsam sein, ist Spannung angesagt. Im Liegestuhl sorgt dafür der Kriminalroman, vielleicht das erfolgreichste Genre der literarischen Fiction. So lässt sich selbst der Literaturclub des Schweizer Fernsehens hie und da zum einen oder anderen Abstecher auf triviales Terrain herbei.
Vor ein paar Jahren erinnerte Raoul Schrott an Frankreichs unvergessliches Verbrechergenie Arsène Lupin, aktiv 1907 bis 1936, und seinen grandiosen Schöpfer Maurice Leblanc. Unlängst nun bereicherte die Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer die illustre TV-Runde mit dem letzten Fall des Commissario Montalbano. «Riccardino» erschien 2020 zum 85. Geburtstag des sizilianischen Autors Andrea Camilleri und endlich dieses Jahr auf Deutsch. Beide, Leblanc und Camilleri, schrieben Krimis im Dutzend, in Dutzende von Sprachen übersetzt, beide schufen Nationalhelden, unzählige Male verfilmt, aus dem nationalen Fernsehen nicht wegzudenken.
Der Tagesschau-Mann
So viel nur als Einladung zur Rückkehr von den temperamentvollen Nachbarn ins unsere Schweizerische Eidgenossenschaft, wo mich dieses Jahr in meinem Heimatdorf Arosa die Ankunft zweier Jungautoren fortgeschrittenen Alters überrascht hat. An der Kasse des «Hopp Arosa», Supermarkt und Snackbar von Adrian Fetscherin, vormals für acht Jahre Manager des EHC Arosa, lag der brandneue Krimi seines Vaters Alfred Fescherin, 86 Jahre alt, meiner Generation ein vertrautes Gesicht aus der Tagesschau von SRF. Späte siebziger und frühe achtziger Jahre. (Foto: SRF) Titel: «Der Kalabrese und sein Zürcher Geheimnis».
In der gleichen Woche hat Andreas Russenberger, der seit zwei Jahren in Arosa lebt, im Kursaal seinen Auftritt mit «Arosa. Wo auch Gauner Urlaub machen. Krimis», das neuste von bereits sieben Büchern seit 2018. Beide sind literarische Quereinsteiger, der erste blickt auf eine lange Karriere in Schweizer Funkmedien zurück, der zweite war erst Geschichtslehrer am Gymnasium und nach einem zweiten Studium in St. Gallen und Stanford im Finanzbereich tätig, unter anderem als Managing Direktor in der Vermögensverwaltung der Crédit Suisse. Wie der Hintergrund bei beiden erwarten lässt, gilt ihre Vorliebe dem kultivierten Verbrechen – mit exklusiven Accessoires. Bei beiden darf man sich wundern, wie und woran sie ihre etwas biedere, verwaltungsnahe, aber doch gepflegte und leicht zu lesende Prosa geschult haben. Noch warten sie auf eine Feier im Feuilleton, aber als Schriftsteller im Neben- oder Zweitberuf verdienen sie gute Sprachnoten.
Vielseitiges Personal
Fetscherins Kalabrese Luciano Sestrielli ist ein überlebensgrosser Mafia-Pate, der in Zürich an einem Aussenposten baut, unterstützt von einer überlebensgrossen Zürcher Kanaille, einem Arzt, dem die Berufsausübung verboten worden ist.
Überzeugende Bühnen sind eine Privatklinik und eine Privatbank, beides Einrichtungen für eine handverlesene Klientel. Für Spannung weiss Fetscherin in der Tat zu sorgen, und sie bleibt über die 440 Seiten aufrechterhalten. Längen gibt es darin keine, denn wir sind auf einem halben Dutzend Schauplätzen unterwegs, in schnellem Rhythmus hin und zurück. Das grosse, vielseitige Personal, das an Markanz in keiner Gestalt zu wünschen übriglässt, verlangt dem Leser einiges ab, entschädigt aber mit einer ebenso reichhaltigen Auswahl, Sympathien und Antipathie zu verteilen. Teilnahme fällt leicht, und soweit wir ausser in Italien auch wieder in Frankreich zugange sind, kommen etwa Feinschmecker und Gartenvernarrte auf die Rechnung. Über den Ausgang darf nichts verraten werden, alle werden damit nicht ganz glücklich sein. Der Krimi spielt in unserer Welt und möchte an die Tagesaktualität anknüpfen. Wer auf Gerechtigkeit bestehen wollte, müsste Fetscherin um eine Fortsetzung bitten, welche die Strafen zu grösserer Leserbefriedigung verteilt.
In Russenbergers «Arosa. Wo auch Gauner Urlaub machen» ist der Titelzusatz «Krimis» in einem sehr weiten Sinn zu verstehen. Das Label steht hier nicht nur für Unglücksfälle und Verbrechen, sondern für allerart Abgründe des Alltags. Wer weiterkommen will, sagt Russenberger, muss immer wieder Neues versuchen, und ohne Wagnis geht dabei nichts. Auf 250 Seiten sind hier 37 Kurzgeschichten und das heisst 37 Experimente versammelt. Etüden in unerwarteten, verblüffenden Wendungen. Da spricht etwa ein Erzähler in der Ich-Form, isst nachts um drei im schlafenden Dorf von der Strasse aufgeklaubte Sandwichreste, und was ist das bloss für eine bizarre Geschichte, bis er sich zum Schluss als ein Fuchs zu erkennen gibt. Über weite Strecken versucht sich Russenberger an einem neuen Genre, das man Kriminalschwank nennen könnte. Nicht alle werden alles gleichermassen lustig finden. Aber die Geschichten haben lokales Aroser Ambiente und Bergweltfarbe auch für Gäste, die von weither kommen.
Der Haifischtümpel des Arbeitsplatzes
Um den ihm liebsten unter seinen Romanen gebeten, gibt mir Russenberger das Buch «Der Paradeplatz», erschienen bereits 2020. Philipp Humboldt, Eigenbrötler mit einem buntgemischten Strauss von Talenten, mit vielen Wassern gewaschen, legt mit Stationen in Zürich und London eine fulminante Bankerkarriere hin und findet sich schliesslich als CEO mit einer massgeschneiderten, reizenden Familie wieder. Seine Schliche allerdings sind alles andere als harmlos, weder im Haifischtümpel seines Arbeitsplatzes noch im Privatleben. Die endgültige Eroberung seiner Traumfrau führt nicht ohne den kaltblütigen Mord an deren bester Freundin zum Ziel. Nach einem gemeinsamen Abendessen erschlägt er in einer dunklen Altstadtgasse seine Sekretärin: Notwehr gegen einen Erpressungsversuch, mit dem ihm immerhin ein beruflicher Supergau gedroht hätte. Nun reicht es ihm fürs Weitere, er steigt aus der Finanzwelt aus. Als Straftäter ist er unerkannt geblieben, und was er der Justiz schuldet, lädt er im Beichtstuhl bei einem zum Priester umgeschulten ehemaligen Polizisten ab, mit dem sich beinahe eine Freundschaft entwickelt.
«Paradeplatz» ist kein Whodunit, wo durch den Glanz verblüffender Wendungen ein unwiderstehlicher Columbo um fünf Ecken einen unausstehlichen Verbrecher zur Strecke bringt. Es ist eine Charakterstudie und eine moralisch-ethische Parabel, unterwegs auf menschenkundlichem Glatteis, das sich in die katholische Kirche hinein fortsetzt. Als Kompass dient Russenberger, wie er mehrmals beiläufig einstreut, Stevensons Klassiker «Dr. Jekyll and Mr. Hyde»: Brillante, hochverdiente Menschen können eine teuflische Seite haben, die für die Umwelt im Dunkeln bleibt, während sie mit ganzer Durchsetzungskraft ihr böses Werk verfolgen. Graham Greenes Anspruch an seine Romane ist die Schöpfung von Gestalten, die erlöst oder verdammt werden können. Wie schneidet Philipp Humboldt moralisch ab?
Fortsetzung?
Das ist die anspruchsvolle Leitfrage des Romans. Ist er der «freundliche Bösewicht, dem man», wie es der Klappentext sagt, «nicht wirklich böse sein kann»? Sympathie oder wenigstens Mitgefühl stellt sich ein, wo er es mit besonders ekelhaften Gestalten zu tun bekommt. Übers Ganze gesehen, bleibt er in seinem Inneren und in seiner Ausstrahlung unterkühlt. Ebenso kalt bleiben seine Ambitionen. Auch im Privatleben behält dieser Banker seinen professionellen Mindset, dem er nach einsamer und immer wieder schlingernder Kindheit eine angestrengte psychische Stabilität verdankt. Kann er im Beichtstuhl, wie er hofft, «die Zukunft zurückgewinnen»? Ein Schuldbewusstsein ist da. Wie sehr plagt es ihn? «Doch was ist, wenn seine Schuld nicht beglichen werden kann?», fragt sich der Banker. Kann sie beglichen werden? Was, wenn nicht? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Auch im Fall Philipp Humboldt, wie bei Fetscherins Sestrielli, könnte nur eine Fortsetzung befriedigende Auskunft geben.