Vor kurzer Zeit noch galt eine Person, die in der Öffentlichkeit laut vor sich hin redet, ohne Zuhörende bei sich zu haben, als verhaltensauffällig. Erst seit zwei Jahrzehnten ist ein solches Tun – in Gestalt mobilen Telefonierens – normal, wenn auch trotzdem noch manchmal irritierend. Auffällig aber ist, wie unterschiedlich die coram publico Fernsprechenden sich selbst darstellen. Mit ihrem Benehmen am Handy geben sie viel mehr preis als bloss die Inhalte der Gespräche. Im Sinne einer kleinen Typologie seien – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – fünf unterschiedliche Verhaltensmuster vorgestellt:
- Die Genierten sprechen leise, oft mit tief gesenktem Kopf oder hinter vorgehaltener Hand, werfen scheue Blicke nach links und rechts und möchten nicht nur unhörbar, sondern am liebsten auch unsichtbar sein. Schon das Klingeln ihres Handys macht sie erröten. Das Gerät ist ihnen peinlich, und wann immer dieses läutet oder dudelt oder zirpt, bereuen sie, dem sozialen Zwang zur permanenten Erreichbarkeit nachgegeben zu haben. Durch den Anruf fühlen sie sich blossgestellt wie ertappte Schwarzfahrer.
- Die Diskreten verstehen es, die Störung ihrer Umgebung auf nahe Null abzusenken, indem sie zum telefonischen Austausch nur das Allernötigste beisteuern, dabei entspannt und in geringer Lautstärke sprechen und das Gespräch kurz halten.
- Die Permanenten sind dauerhaft ans Handy angeschlossen. Meist sind sie pubertär bis adoleszent und weiblichen Geschlechts. Üblicherweise nutzen sie Kopfhörer, was sie von ihrer Umgebung akustisch soweit isoliert, dass sie sich ungestört fühlen. Was ihr Publikum vor Ort nur desto mehr mitbekommt, ist eine Kommunikation voller Rätsel: Augenrollen und Kichern, jaulende Exklamationen, kryptische Abfolgen von Slang-Ausdrücken. Das Wenige, was an verständlichem Text vernehmbar ist, sind Satzfetzen, die offenbar zur Verständigung ausreichen.
- Den Nackten fehlt jeder Sinn für Unterschiede zwischen öffentlichem und privatem Sprechen. Für sie gibt es nichts Deplatziertes, nichts Peinliches, nichts Ungehöriges. Die Palette reicht in dieser Kategorie von der elterlichen Diskussion über Schulprobleme eines Kindes bis zur Frau, die im vollbesetzten Tram am Handy wutentbrannt mit ihrem Lover Schluss macht.
- Die Angeber (beiderlei Geschlechts, vorwiegend zwischen dreissig und siebzig) brauchen das öffentliche Telefonieren vor Publikum zur Hebung ihrer Egos. Ob es dabei um private oder geschäftliche Dinge geht, spielt keine Rolle. Der Ton macht die Musik, und diese bezweckt einzig die Selbstdarstellung auf grosser Bühne. Angeber reden bei ihren Telefonaten so viel, dass man sich fragt, ob am anderen Ende überhaupt jemand dran sei.
Sprachliche Kommunikation ist ein nur zu kleinen Teilen kartografierter Kontinent. Der Handy-Alltag bringt es mit sich, dass wir uns wie Forschungsreisende mit fremden Welten des Verhaltens konfrontiert sehen. Obschon es oft auch die unsrigen sind.