
Wie ein altpersisches Märchen zum Fallbeispiel der missglückten Vergangenheitsbewältigung einer Frau bis zurück in die Ahnenreihen werden kann, ist derzeit am Theater Basel in «Turandot» von Giacomo Puccini zu erleben.
Die Vorgeschichte von Prinzessin Turandot geht weit zurück. Das ursprüngliche persische Märchen aus der orientalischen Sammlung von «1001 Nacht» wurde vom venezianischen Dichter Carlo Gozzi 1762 im Stile der Commedia dell’Arte umgesetzt und nach China versetzt. Chinoiserien standen schon damals – wie auch später im Fin-de-Siècle – bei Kunst und Ausstattung hoch im Kurs.
Ein «tragikomisches Märchen»
Nach Gozzi nahm sich u. a. Friedrich Schiller des Stoffes an. 1802 wurde sein Werk unter dem Titel «Turandot – ein tragikomisches Märchen nach Gozzi» veröffentlicht. Darin verhöhnte die Hauptfigur Prinz Calàf anfänglich noch die Erzählungen um die grausame Prinzessin Turandot, die alle königlichen Freier köpfen liess, welche ihre drei Rätsel nicht zu lösen vermochten: «Das abgeschmackte Märchen hab ich schon oft belacht.» Er sollte eines anderen belehrt werden.
Aussergewöhnliche Auslegung
Ich will heute vor allem aber auf eine aussergewöhnliche Auslegung und dramaturgische Anordnung der neuesten Inszenierung am Theater Basel eingehen, welche derzeit eine vielbejubelte Aufführung erlebt.
Puccini selbst war der Opernschluss, vorgesehen sowohl von Gozzi als auch Puccinis Librettisten Giuseppe Adami und Renato Simoni, nicht ganz geheuer. Wie sollte das die Oper abschliessende grosse Liebesduett zwischen Prinz Calàf und Turandot wirkungsvoll und einigermassen logisch eingebaut werden? Eine solch rasche «Bekehrung» von einer durch die Jahrhunderte hindurch genährten Ablehnung, ja, von Hass sollte sich so rasch zur Liebe bekehren? Denn den auslösenden Angelpunkt der ganzen Tragödie bildet die späte Rache der nachgeborenen Turandot für die Vergewaltigung einer Ahnin.
Puccini im Zwiespalt
Puccini musste, wie wir wissen, diesen Zwiespalt nicht mehr lösen. Er starb sozusagen mitten in der Arbeit. Um die Oper im Sinne des Librettos von Giuseppe Adami und Renato Simoni zu vollenden, wurde Puccinis Kollege, der italienische Komponist Franco Alfano, beauftragt. Dessen Fassung mit dem abschliessenden Liebesduett wird bis heute meistens nachgespielt. Allerdings schuf der Komponist Luciano Berio (1925-2003) für die Los Angeles Opera im Jahre 2002 auch eine Fassung, welche mit Turandots Selbstmord endet.
Aber auch diesem psychologisch weit folgerichtiger scheinenden Schluss entziehen sich nun in Basel der deutsche Regisseur Christof Loy und der musikalische Leiter José Miguel Pérez-Sierra. Sie folgen dem Beispiel Arturo Toscaninis, der 1926 an der Uraufführung der Mailänder Skala nach der Todesarie der Sklavin Liù den Taktstock niedergelegt und gesagt hatte: «An dieser Stelle starb der Maestro.»
Prolog in der Kindheit
Christof Loy lässt es dabei aber bei einem so abrupten Schluss nicht bewenden. Er stellt dem Werk einen erfundenen Prolog voran und ergänzt die Oper durch den letzten Akt einer weiteren Puccini-Oper, «Manon Lescaut». Im Prolog des durch die gesamte Aufführung gleichbleibenden Bühnenbilds (Herbert Murauer), eines mit Chinoiserien tapezierten Salons, erscheint Turandot als kleines Mädchen, welches die grausame Geschichte seiner Ahnin durch die ganze Kindheit begleiten, von ihr gewissermassen aufgesogen wird. Ihr Entschluss, später keinem Manne anzugehören und eine anbefohlene Heirat zu verunmöglichen, erwächst aus dieser unverarbeiteten Erschütterung.
Kühne Neudeutung
Im Kindheits-Prolog erklingt Puccinis kammermusikalisches Werk «Crisantemi», das im Voraus die Brücke schlägt zur verzweifelnden Manon in der Wüste: «… Mit Blut bin ich befleckt.» Manon entdeckt kurz vor ihrem Tode die Kraft der echten Liebe – eine versöhnliche Auflösung von Schuld und Grausamkeit. In diesem psychologisch etwas forcierten Basler Schlussakt löst sich Turandot in Personalunion mit Manon praktisch auf. Christof Loy gelingt hier eine kühne Neudeutung, sowohl szenisch als auch musikalisch, zu der man stehen kann, wie man will. Musikalisch gehört dieser Manon-Akt zu den eindrucksvollsten und im besten Sinne schönsten Minuten des Basler Abends.
Hochkarätige Besetzung
Die hochdramatische Stimme der Spanierin Miren Urbieta-Vega behauptete sich kraftvoll in den sängerisch höchst anspruchsvollen Szenen als Turandot, wechselte dann aber noch überzeugender in die weicheren Klänge der sterbenden Manon. Sie fand im Mexikaner Rodrigo Porras Garulo als Calàf einen grossen Tenor von erfreulicher Strahlkraft.
Die eigentliche Entdeckung dieser Premierenbesetzung aber war die junge Armenierin Mané Galoyan als die sich für Calàf opfernde Sklavin Liù – ein wahrer «italienischer Sopran» mit einer enorm ausdrucksstarken Stimme und anrührendem Spiel.
Durchwegs überzeugend zeigte sich das gesamte riesige Ensemble unter der (manchmal fast zu) temperamentvollen Stabführung des Madrilenen José Miguel Pérez-Sierra: Der Chor des Theater Basel, aufgestockt durch Extrachor und Knabenkantorei Basel; das bis in die Forte-Fortissimi des Blechs getriebene Sinfonieorchester Basel, sowie last but not least auch alle hier nicht einzeln erwähnten Solistinnen und Solisten der Oper.
Das Ergebnis waren – im relativ zurückhaltenden Basel selten zu erlebende – Standing Ovations und stürmischer Jubel. Ein Erlebnis.
Iso Camartin hat diese Puccini-Oper im Journal21.ch vom 18.10.2023 ausführlich beschrieben.