
In einem Sachbuch zeichnet der Literaturwissenschaftler Kai Sina die politische Entwicklung des Schriftstellers Thomas Mann nach, der vor 150 Jahren zur Welt gekommen ist. Sein besonderes Augenmerk gilt Manns Auseinandersetzung mit dem Zionismus.
Es ist ein Bild, das viel erzählt: Vorn steht an diesem 17. Oktober 1930 der Schriftsteller Thomas Mann, doch sein Publikum im Berliner Beethovensaal hat sich abgewandt. Beunruhigt schaut es nach hinten. Dort nämlich haben einige rechtskonservative Schriftsteller und in geliehenen Smokings gekleidete Männer der von Joseph Goebbels dorthin beorderten Krawalltruppe SA mit Zwischenrufen einen Tumult entfacht. Mann reagiert nicht auf den Vorschlag aus dem Publikum, seine Ansprache abzubrechen.
«Veitstanz des Fanatismus»
In deutlichen Worten demaskiert er den Nationalsozialismus, der im Monat zuvor bei den Reichstagswahlen beunruhigend zugelegt hatte, und schliesst mit dem Aufruf, sich von der «radikalistischen Ekstase», vom «Veitstanz des Fanatismus» dieser Bewegung loszusagen. Und an das eigene Milieu gerichtet fügt er hinzu: «Der politische Platz des Bürgertums ist heute an der Seite der Sozialdemokratie.»
Es ist der Moment, da aus dem engagierten Republikaner und Demokraten Thomas Mann ein bekennender Aktivist und Antifaschist wird. So beschreibt der Literaturwissenschaftler Kai Sina in seinem Buch «Was gut ist und was böse. Thomas Mann als politischer Aktivist» die symbolträchtige Szene des frischgebackenen Nobelpreisträgers. Fruchten wird sein Appell an das Bürgertum nicht, es wird Hitler am 30.Januar 1933 an die Macht verhelfen. Thomas Mann aber wird ins Exil gehen, und in den USA zur weithin hörbaren Stimme eines anderen, zivilisierten Deutschlands werden.
Die Demokratie, «in unsere Hände gelegt»
Während er, Schritt für Schritt, zum politischen Kämpfer reift, zieht sich als «durchgehender Strang», so Sina, die Auseinandersetzung mit dem Judentum durch Thomas Manns Standortbestimmungen. Und sie prägt auch sein literarisches Schaffen. Noch am Beginn des Ersten Weltkriegs erliegt er der allgemeinen Kriegsbegeisterung. «Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung», schreibt er. In den «Betrachtungen eines Unpolitischen» nimmt er gegen seinen Bruder Heinrich Stellung, den glühenden Pazifisten in der Familie. Dann aber, nach dem verlorenen Krieg, stellt er sich auf die Seite der Weimarer Republik. Im selben Beethovensaal, den er 1930 zum Ort seines Auftritts wählt, spricht er am 13.Oktober 1922 anlässlich des 60. Geburtstags von Gerhard Hauptmann über die neue deutsche Republik. Sie ist, wie er betont, «in unsere Hände gelegt, in die jedes Einzelnen». Der demokratische Staat «ist unsere Sache geworden, die wir gut zu machen haben. Die sogenannte Freiheit ist kein Spass und Vergnügen. Ihr anderer Name lautet Verantwortlichkeit».
In diesem Staat grassiert seit langem ein sich stetig steigernder Antisemitismus, der Thomas Mann auch deshalb etwas angehen muss, weil er im Februar 1905 in die angesehene jüdische Münchner Familie Pringsheim eingeheiratet hat. Und weil im Jahr darauf der völkische Literaturhistoriker Adolf Bartels die Behauptung aufstellt, die Brüder Heinrich und Thomas Mann seien als deutsche Schriftsteller getarnte Juden, was sich in ihrer «Freude am Verfall» zeige.
So nimmt Thomas Mann denn 1907 eine Umfrage des Publizisten Julius Moses zur «Judenfrage» zur Gelegenheit, um zu bekennen: Er sei zwar kein Jude, aber «ein überzeugter und zweifelloser ‘Philosemit’». Und er wende sich entschieden gegen einen «Exodus» der Juden, «wie die Zionisten von der strengen Observanz ihn träumen» – gegen ihre Auswanderung nach Palästina also. Denn dieser Exodus bedeute den Verlust eines «unentbehrlichen Kultur-Stimulus» und wäre «ungefähr das grösste Unglück, das unserem Europa zustossen könnte».
Eine Reise nach Palästina
Noch einmal nimmt er 1921 «zur jüdischen Frage» Stellung, in einem Text, dessen Publikation Ehefrau Katia mit ihrem heftigen Einspruch verhindert – weil sie, wie man vermuten kann, verhindern will, dass der Ehemann in die schon ziemlich aufgeheizten Debatten hineingezogen wird. Dass man in München Albert Einstein an Gastvorlesungen gehindert hat, bezeichnet er als «eine entsetzliche Schande», und er beschreibt, wie sehr ihn jüdische Verleger, Kritiker, Leserinnen und Leser gefördert haben.
Dann obsiegt die Neugier darauf, was sich da anbahnt im britischen Mandatsgebiet in Palästina. 1930 reisen die Manns nach Ägypten und Palästina. Thomas Mann sieht, welche Aufbauleistung die Juden da vollbringen, er tritt für einen kulturellen Zionismus ein, distanziert sich aber vom politischen Zionismus: Die Juden müssten vorsichtig vorgehen, müssten auf die Araber Rücksicht nehmen, die schon sehr viel länger in diesem Raum ansässig seien. Eine Haltung, die ihn, wie Kai Sina betont, «für die politische Rechte in Israel bis heute zu einem roten Tuch macht».
«Ein Buch voller jüdischer Geschichten»
Als Hitler an die Macht kommt, nimmt Thomas Mann noch Termine wahr. Dann reist er über Amsterdam, Brüssel, Paris nach Arosa. Er ist jetzt im Exil, und doch wird es noch drei Jahre dauern, bis man ihn ausbürgern wird. Noch im Oktober 1933 hat der S. Fischer Verlag auch in Deutschland «Die Geschichten Jaakobs» ausgeliefert, den ersten Band des am Ende vier Bände umfassenden Romanwerks «Joseph und seine Brüder». Vergeblich beklagt sich ein staatlich bestellter Kontrolleur darüber, «dass Thomas Mann zehn Monate nach dem 30. Januar ein Buch voller jüdischer Geschichten vertreiben kann». Was noch eine Weile so bleiben wird: 1934 erscheint in Berlin «Der junge Joseph», 1936 in Wien «Joseph in Ägypten».
Die nationalsozialistische Regierung will keinen Bruch riskieren, und Thomas Mann will es auch noch nicht. Im langen Vorwort zu «Die Geschichten Jaakobs» bettet er «das Judentum ein in das unübersehbare Beziehungsfeld der Menschheitsgeschichte», fasst Sina die Stossrichtung zusammen. «Der rassistischen und religiösen Ausgrenzung und Verfolgung setzt er kulturelle Zugehörigkeit und historische Verwandtschaft entgegen.»
Arnold Schönbergs gewalttätige Vision
Dann wird es Nacht. Über Europa, in der Welt, vor allem aber über den Juden. In einem offenen Brief in der NZZ vollzieht Thomas Mann am 3. Februar 1936 den Bruch mit den Nazis, und er hilft, wo immer er kann. In den USA, wo er ab 1938 lebt, unternimmt er Vortragsreisen, und seinen Landsleuten hält er in jenen kurzen Reden, die über die BBC verbreitet werden, vor, was er aus Deutschland und den von ihm besetzten Gebieten hört. Schon 1942 berichtet er in drastischen Worten über den Massenmord an den Juden. Er unterstützt alle Bestrebungen, Juden die Auswanderung nach Palästina zu ermöglichen.
Aber lange grenzt er sich auch noch ab. Als sich 1939 der Komponist Arnold Schönberg an ihn wendet mit der Bitte, Thomas Mann solle sein «Vier-Punkte-Programm für das Judentum» unterstützen, bekommt er eine gesalzene Antwort. Schönberg betont, es müssten Wege gefunden werden, «einen Platz zu erhalten, um einen unabhängigen jüdischen Staat zu errichten». Die Rückeroberung Palästinas sei dafür unerlässlich und solle «skrupellos» umgesetzt werden. Mann antwortet, dass ihm die «gewalttätige Allüre» des Programms deutlich zu weit gehe.
Dann aber, unter dem Eindruck des Holocaust, vollzieht Thomas Mann 1944 eine Kehrtwende. Der Krieg habe Millionen Juden entwurzelt, argumentiert er. Wer überlebe, müsse in Palästina eine Heimat finden. Und auch wenn die Araber «ein Volk von grossen Kultur-Traditionen» seien, müssten sie die Bevölkerung durch die zivilisatorisch höherstehenden Juden notgedrungen akzeptieren. So kommt es, dass er 1948 im Unabhängigkeitskrieg mit diesem Volk bangt, das, wie er schreibt, «eine Demokratie arbeitsamer und kulturwilliger Menschen» aufbauen wolle. Sein Eintreten für Israel sei «die realpolitische Kehrseite seiner schonungslosen Anprangerung der Shoah vor den Deutschen und der Weltöffentlichkeit», fasst Kai Sina zusammen.
Kai Sina: Was gut ist und was böse. Thomas Mann als politischer Aktivist. Propyläen Verlag, Berlin 2024, 296 Seiten