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NZZ

Tabubruch in der Abgrenzung gegen Rechtsaussen

6. Februar 2020, alt Nationalratspräsidentin
Gret Haller
Deutschland ist parteipolitisch erschüttert. Im dritten Wahlgang, der nur noch eine relative Mehrheit verlangt, ist der Liberale Thomas Kemmerich mit allen Stimmen der AfD, der Liberalen und eines grossen Teils der CDU zum Thüringischen Ministerpräsidenten gewählt worden.

Selbst wenn es nun zu Neuwahlen kommt, kann das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden. Die Wahl eines liberalen Ministerpräsidenten dank einer geschlossenen AfD-Unterstützung hielt man bisher für undenkbar. Rechtsnationalen Strömungen sind viele europäische Staaten ausgesetzt. Zu Recht zieht sich das Entsetzen deshalb auch gesamteuropäisch durch die Presse. Von "Faschisten an der Macht" ist die Rede und von "Aufhebung der Quarantäne", unter die man die AfD in Deutschland politisch bisher gestellt hatte. Die liberale "Zeit" stellt fest, die Thüringer CDU und FDP seien der falschen konservativen Behauptung gefolgt, AfD und die Linke seien gleichermassen gefährliche Parteien, eine Behauptung, die man von den US-Republikanern kenne und die eine "moralische Verrohung der konservativen Eliten" bedeute. Nur die NZZ findet, es sei kein Makel, wenn sich der Liberale Ministerpräsident auch von der AfD habe wählen lassen, das sei schliesslich "Demokratie".

Einmal mehr zeigt sich die Schweiz als Insel. Es ist eine Robinson-Sicht, die gesamteuropäische Bedeutung dieses Vorfalles herunterzuspielen und als normalen demokratischen Ablauf zu verharmlosen. Wurde die NZZ wieder einmal zum Opfer einer verengten nationalen Sicht? Die Schweiz hat ein Regierungssystem, das die Domestizierung des autoritären Rechtspopulismus schon in sich selbst gewährleistet. Die Regierung kann durch keine Partei "übernommen" werden, weil alle grossen Parteien über individuelle Wahl durch das Parlament in der Regierung vertreten sind, so auch der antipluralistischer Rechtspopulismus, der sich langfristig bei kaum 30% eingependelt hat. Hier geht es aber um eine gesamteuropäische Frage und um Mehrheitsregierungen, die sich gegen den Rechtspopulismus zur Wehr setzen müssen. Das europaweite Entsetzen ist deshalb mehr als berechtigt.

Der Vergleich von Regierungssystemen führt zu ganz anderen Überlegungen von nicht minder europapolitischer Relevanz. Die heutige Zersplitterung der Parteienlandschaft macht die Bildung von Mehrheitsregierungen immer schwieriger. Immer häufiger kommen Minderheitsregierungen in Diskussion, die von Nicht-Regierungsparteien geduldet werden und in verschiedenen Sachgeschäften unterschiedliche Koalitionen suchen müssen. Falls ein Koalitionsvertrag existiert, ist die Orientierung für die Nicht-Regierungsparteien etwas einfacher. Es sind aber auch Minderheitsregierungen ohne einen solchen Vertrag möglich, und in einem solchen Fall nähert sich die Koalitionsbildung in einzelnen Sachbereichen bereits ein wenig dem System an, wie es sich in der Schweiz entwickelt hat.

Eine noch grössere Verwandtschaft des Schweizerischen Regierungssystems zeigt sich auf der Ebene der Europäischen Union selber. Weil sich die Union durch langsamen Zusammenschluss von immer mehr Staaten gebildet hat, wird ihre "Regierung" breit zusammengesetzt, und dies unter Berücksichtigung vieler Regeln des Ausgleichs, ganz ähnlich den schweizerischen ungeschriebenen Regeln der Zusammensetzung des Bundesrates.

Warum diese Überlegungen am Tag des grossen Entsetzens über die Vorgänge in Thüringen? Einfach deshalb, weil einem bewusst werden kann, wie privilegiert die Schweiz mit ihrer systemimmanenten Domestizierung des autoritären Rechtspopulismus ist. Diese ist Teil der politischen Kultur von Freiheitsrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Politische Kultur enthält aber immer auch ein grosses Mass an Verantwortung. Die Kultur von Freiheitsrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die genau gleich auch eine europäische ist, verlangt auch das Mitdenken von uns Schweizerinnen und Schweizern. Wir sollten uns in die Weiterentwicklung der Union einbringen, gerade weil wir so privilegiert sind und vieles viel länger haben entwickeln können als andere Staaten, die im vergangenen Jahrhundert neu haben beginnen müssen. Die Zunahme oder gar Tolerierung des autoritären Rechtspopulismus in europäischen Staaten kann uns nicht egal sein. Und vor allem sollten wir sie nicht achselzuckend verharmlosen.

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