„An einem Sommermorgen sass ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften.“ – So beginnt „Das tapfere Schneiderlein“ der Brüder Grimm. Der Satz steht beispielhaft für die Sprache der berühmten Märchensammlung. Es lohnt sich, ihn näher anzuschauen.
Mit den ersten drei Wörtern setzt der Erzähler die Sonne an den Himmel und uns in eine wohlige Welt. Die Zeitangabe „ein Sommermorgen“ weist in eine unbestimmte Vergangenheit, wie auch der Ort der Handlung im weiteren Text nicht lokalisiert ist. Wir vernehmen den Tonfall einer erzählten Geschichte, die nicht etwas Tatsächliches berichtet, sondern eine fiktive Welt heraufbeschwört.
Mit „sass“ ist schon das vierte Wort ein Verb. Das Deutsche hat bekanntlich die Unart, ellenlange verbfreie Wortschlangen zuzulassen, die erst am entfernten Satzende von einem Tätigkeitswort bewegt werden. Ganz anders hier: Gleich drei Prädikate („sass“, „war guter Dinge“, „nähte“) aktivieren ohne Umschweife das Subjekt „ein Schneiderlein“, in welchem wir sogleich dem Helden der Geschichte begegnen. Schon sind wir mitten drin!
Kraftvolle Bildhaftigkeit zieht den Hörer und die Leserin in die Szene herein. Mit der Wendung „ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster“ steht die Werkstatt vor Augen mit der Hauptperson, die im Schneidersitz auf dem ans Licht gerückten Tisch ihre Arbeit tut. Mit dem dank sommerlicher Wärme geöffneten Fenster drängt die Erzählung von Anfang an aus dem engen Stübchen ins Freie, in die weite Welt hinaus.
Dass nicht von einem Schneider, sondern einem Schneiderlein die Rede ist, verrät sogleich die Tonalität der Erzählung. Wir haben es mit einem Schwank, einer nicht ganz ernsten, dafür um so derberen und listigeren Geschichte zu tun. Das Männchen auf dem Tisch „war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften“, lautet der Schluss des Satzes. Das Schneiderlein ist also zufrieden mit sich und der Welt. Doch in den letzten drei Wörtern steckt eine Portion Sarkasmus. Leibeskräfte beim Nähen? Ist das Männchen übereifrig, irgendwie überdreht? Dieses „nähte aus Leibeskräften“ ist komisch und putzig, aber es hat auch eine unvermittelte Heftigkeit. – Mit dieser subtilen Irritation sind wir auf die deftige Geschichte eingestimmt.
Die Sprachforscher Jacob (1785–1863) und Wilhelm (1786–1859) Grimm haben für ihre von 1812 bis 1858 herausgegebene Märchensammlung einen besonderen Sprachstil entwickelt, der heute als „Märchenstil“ schlechthin gilt. Innerhalb dieses Typus zeigt sich eine grosse Variationsbreite. Die Grimm-Märchen haben je ihre eigene Tonalität und sind kunstvoll ausgearbeitet. Ihre sprachlichen Finessen sind eine Inspiration für den Umgang mit Stilmitteln.
„Das tapfere Schneiderlein“ – wie alle weiteren Märchen der Brüder Grimm – ist auf dieser Website nachzulesen.