In der Ukraine macht sich eine gewisse Ernüchterung breit. Viele der vom Westen versprochenen schweren Waffen können noch nicht eingesezt werden. Die Russen sind dabei, die Ostukraine definitiv zu erobern und ihre Stellungen im Süden zu festigen. Der ukrainischen Armee geht langsam die Munition aus. Die anfängliche Euphorie weicht einer düsteren Stimmung.
Genährt wird dies Stimmung auch dadurch, dass täglich zwischen 100 und 200 ukrainische Soldaten auf dem Schlachtfeld sterben. Ukrainische Beamte beklagen, dass sich im Westen eine gewisse «Kriegsmüdigkeit» breitmacht.
Vor allem beklagt die ukrainische Regierung, dass die von Präsident Biden und anderen westlichen Staaten versprochenen schweren Waffen noch immer nicht eingesetzt werden können. Zur Zeit habe die ukrainische Armee den weit überlegenen russischen Streitkräften kaum etwas entgegenzusetzen. Serhiy Haidai, der Gouverneur von Luhansk sagte, die Russen verfügten über zehn Mal mehr Artillerie als die Ukrainer.
Einem Berater der Kiewer Regierung zufolge feuert Russland bis zu 50’000 Artilleriegeschosse pro Tag ab. Die Ukraine kann nur mit einem Zehntel dieser Menge zurückschlagen.
Die strategisch wichtige Stadt Sewerodonezk steht vor dem Fall. Würde sie erobert, würden die Russen die ganze Provinz Luhansk kontrollieren. Auch die Nachbarprovinz Donezk könnte bald ganz in russische Hände fallen.
Wo bleiben die westlichen Waffen?
Der Westen hat riesige Mengen an Waffen geliefert. Die USA haben 108 schwere Haubitzen vom Typ M777 mit 220'000 Schuss Munition bereitgestellt. Der Grossteil davon befindet sich bereits auf dem Schlachtfeld oder auf dem Weg zu diesem.
Bei vielen dieser Waffen handelt es sich modernste Hightech-Systeme. Ihr anspruchsvolle Handhabung muss von den ukrainischen Truppen erst gelernt werden. Das gilt vor allem für das hochentwickelte HIMARS-Mehrfachraketen-System, dessen Geschossen eine Reichweite von 70 Kilometern haben. HIMARS wird jedoch nicht sofort zum Einsatz kommen, da die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte mehrere Wochen dauert. Man spricht von mindestens drei Wochen.
Dann könnte es vermutlich in manchen ukrainischen Regionen zu spät sein.
Doch nicht nur die Ukrainer haben auf dem Schlachtfeld Mühe. Auch den Russen scheinen die Präzisionswaffen nach westlichen Informationen langsam auszugehen. Deshalb setzen sie alte sowjetische Waffen ein, die sehr ungenau sind und grosse Verwüstungen anrichten.
Chemiewerk beschossen
Russische Raketen haben am Samstag das Chemiewerk «Azot» in der umkämpften Stadt Sewerodonezk pausenlos beschossen. Wie Serhiy Haidai, der Gouverneur der Provinz Luhansk am Fernsehen sagte, seien Dutzende Tonnen Öl aus beschädigten Kühlern der Azot-Anlage ausgelaufen. Die «ununterbrochenen» Kämpfe würden weiter toben, sagte er. In dem Werk haben Hunderte Zivilisten Zuflucht gesucht. Ob es Verletzte oder Tote gab, ist unklar.
Haidai erklärte, dass Russland nun den grössten Teil von Sewerodonezk besetzt. Nach Angaben des russischen Militärs befinden sich alle Wohngebiete von Sewerodonezk nun unter russischer Kontrolle.
«Zehn Mal mehr Artillerie»
«Wenn wir den Feind aus einer Strasse vertrieben haben, setzt er seine Panzer und Artillerie ein, um das Gebiet Haus für Haus zu zerstören», so der Regionalchef von Luhansk.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj sagte, die russischen Truppen hätten im Donbass «sehr bedeutende» Verluste erlitten.
Die ukrainischen Streitkräfte hätten Dörfer und Städte in den südöstlichen Regionen Cherson und Saporischschja zurückerobert.
Die Ukraine hat ihre Verbündeten um mehr Waffen gebeten und darauf hingewiesen, dass Russland über mindestens zehnmal mehr Artilleriegeschütze verfügt.
Ausgabe russischer Pässe
In südukrainischen Gebieten, die von den russischen Streitkräften erobert wurden, haben die Russen begonnen, den Einheimischen russischen Pässe abzugeben und die ukrainischen Pässe einzuziehen. Das deutet darauf hin, dass die Südukraine in russisches Staatsgebiet eingegliedert werden soll.
Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Tass erhielten die ersten 23 Einwohner von Cherson am Samstag bei einer Zeremonie russische Pässe. Tass erklärte auch, Tausende Bürgerinnen und Bürger hätten russische Pässe beantragt. Diese Behauptung kann nicht überprüft werden. Nicht nur in Cherson auch in Melitopol am Schwarzen Meer werden russische Pässe ausgegeben. Der von Russland eingesetzte Militärgouverneur in Cherson, Wolodymyr Saldo, sagte, dass «alle unsere Kameraden in Cherson die russische Staatsbürgerschaft so schnell wie möglich erhalten wollen».
Den Ukrainern gehen die Granaten aus
In der umkämpften südukrainischen Stadt Mykolajiv gehen den ukrainischen Streitkräften die Artilleriegranaten aus. Vitaly Kim, der Gouverneur der Region, sagte, die russische Armee sei viel stärker. Dem intensiven russischen Beschuss hätten die Ukrainer wegen rar werdenden Granaten immer weniger entgegenzusetzen. Kim forderte die westlichen Verbündeten der Ukraine auf, die Lieferung von Langstreckenartillerie und Munition zu beschleunigen.
«Selenskyj wollte nicht hören»
Der amerikanische Präsident Joe Biden sagte, er habe den ukrainischen Präsidenten Selenkyj vor einer russischen Invasion gewarnt. Doch der habe nicht an einen Überfall glauben wollen. «Ich weiss, dass viele Leute dachten, ich würde übertreiben», sagte Biden am Freitag. Aber die amerikanischen Geheimdienste hätten «die Daten gehabt». Biden war einer der ganz wenigen Politiker, die einen russischen Überfall voraussagten.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21