Die ukrainische Hauptstast war in den letzten drei Monaten verschont geblieten. Das Leben in Kiew hatte sich weitgehend normalisiert. Am frühen Sonntag nun erschütterten mehrere Explosionen die westlichen Kiewer Stadtteile Darnytskyi und Dniprovskyi. Eine Einwohnerin wurde ins Spital gebracht. (Foto: Keystone/EPA/Oleg Petrasyuk)
- Bomben auf Kiew
- «Erbitterter «Widerstand» in Sewerodonezk
- Verärgert über Macron
- Warten auf schwere Waffen
- «Schleichendes russisches Vorrücken»
- Wie in der Sowjetunion
- Internationale Kämpfer getötet
- Gestärkte ukrainische Identität
- Der Krieg dauer noch Monate
- 100 Milliarden Dollar Schäden
Warnung vor Raketenlieferungen
Mindestens fünf Raketen schlugen gegen 05.00 Uhr morgens ein, unter anderem in der Nähe eines Bahnhofs. Der Beschuss ist laut ukrainischen Medien offenbar eine erste russische Reaktion auf die angekündigte Lieferung schwerer westlicher Waffen. Russland erklärt, mit dem Angriff seien Panzer und gepanzerte Fahrzeuge getroffen worden. Putin hatte zuvor gewarnt, Moskau werde Ziele treffen, die es bisher vermieden habe, falls westliche Staaten damit begännen, Raketen mit grösserer Reichweite an die Ukraine zu liefern.
«Erbitterter «Widerstand»
Noch ist die hart umkämpfte ostukrainische Stadt Sewerodonesk nicht ganz gefallen. Die ukrainischen Truppen nach eigenen Angaben «erbitterten Widerstand». Der ukrainische Gouverneur der Region, Serhij Haidai, erklärte, seine Soldaten hätten etwa ein Fünftel der Stadt zurückerobert und könnten sich dort halten. «Sobald wir über genügend westliche Langstreckenwaffen verfügen, werden wir ihre Artillerie vertreiben. Und dann, glauben sie mir, wird die russische Infanterie einfach davonlaufen», sagte er.
Die USA wollen den Kiewer Streitkräften Präzisionsraketensysteme zur Verfügung stellen, mit denen sie russische Stellungen aus grösserer Entfernung treffen können. Das Vereinigte Königreich wird den Kiewer Streitkräften ausserdem eine Reihe grosser Mehrfachraketenbatterien zur Verfügung stellen. Wann diese Waffen eintreffen, ist unklar.
Schlecht ausgebildete russische Kämpfer
In der Stadt würden Strassenkämpfe stattfinden, sagte der ukrainische Präsident Selenskyj. Gekämpft würde um jedes Haus, jede Strasse. Die meisten der etwas 15'000 in Sewerodonesk ausharrenden Zivilisten, haben in Kellern Zuflucht gesucht. Die Lage sei «extrem schwierig», sagte Selenskyj.
In seinem jüngsten Geheimdienstbericht erklärte das britische Verteidigungsministerium, dass die ukrainischen Gegenangriffe «wahrscheinlich die operative Dynamik» der russischen Streitkräfte in Sewerdonesk schwächen. Laut dem britischen Ministerium kämpfen in der Stadt auch viele pro-russsische separatistische Kämpfer, die schlecht ausgebildet und schelcht ausgerüstet seien. Ihnen fehle die schwere Ausrüstung, die reguläre Armee-Einheiten besitzen.
Der Krieg dauert noch Monate
Westliche Militäranalysten erklären, dass Ukraine-Krieg noch Monta dauern wird. Auch nach den nächsten hundert Kriegstagen sei kein Ende in Sicht. Die Kampfhandlungen würden vermutlich noch brutaler werden. Die Konfrontation zwischen Putin und dem Westen werde noch härter werden. Ian Bremmer, der Präsident der Eurasia Group sagt, neue westliche Waffen, die die Ukraine jetzt erhält, könnten dazu führen, dass die ukrainischen Truppen einige Gebiete zurückerobern könnten. Doch es sei unwahrscheinlich, dass sie den Verlauf des Krieges «dramatisch verändern» würden. Die Eurasia Group ist eine Beratungsorganisation für politische Risiken.
Unter dem Druck der verschärften westlichen Sanktionen werde Russland wahrscheinlich mit Cyberangriffen, Spionage und Desinformationskampagnen zurückschlagen, sagte er. Eine russische Seeblockade des ukrainischen Getreides dürfte die Nahrungsmittelkrise in den armen Ländern noch verschärfen. In hundert Tagen werde der Krieg wohl nicht viel anders aussehen als heute, sagte Bremmer. «Aber ich denke, dass die Konfrontation mit dem Westen das Potenzial hat, deutlich schlimmer zu werden.»
Ukraine verärgert über Macron
Der ukrainische Aussenminister reagierte verärgert auf die Äusserungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. In einem Interview sagte der französische Präsident: «Wir dürfen Russland nicht demütigen, damit wir an dem Tag, an dem die Kämpfe aufhören, mit diplomatischen Mitteln eine Fluchtrampe bauen können. Ich bin überzeugt, dass es Frankreichs Rolle ist, eine Vermittlungsmacht zu sein.»
Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba twitterte am Samstag, dass «Aufrufe, eine Demütigung Russlands zu vermeiden, Frankreich nur demütigen können. Denn es ist Russland, das sich selbst demütigt. Wir alle sollten uns besser darauf konzentrieren, wie wir Russland in die Schranken weisen können. Das wird Frieden bringen und Leben retten.»
Bilanz
- Die russischen Truppen beherrschen ein Fünftel der Ukraine. Das ist ein Gebiet grösser als die Benelux-Staaten.
- Zwölf Millionen Menschen sind geflohen oder vertrieben worden. 6,5 Millionen verliessen das Land, 8 Millionen wurden im eigenen Land vertrieben (Binnenflüchtlinge).
- 4'000 Zivilsten wurden nach Uno-Angaben getötet. Die Ukraine spricht von wesentlich höheren Zahlen.
- 4,8 Millionen Arbeitsplätze gingen verloren.
- Die Hälfte der ukrainischen Unternehmen wurde geschlossen.
- Die ukrainische Wirtschaftsleistung wird in diesem Jahr halbiert.
- 90 Prozent der Bevölkerung läuft Gefahr, unter die Armutsgrenze zu fallen.
- Die Schäden an der Infrastruktur belaufen sich auf mindestens 100 Milliarden Dollar.
- Fast 1000 ausländische Unternehmen haben Russland verlassen, unter ihnen McDonald’s, Starbucks und Nike.
- Die russische Ölproduktion ist um 15 Prozent zurückgegangen.
- Russland ist geopolitisch isoliert und steht vor einer jahrelangen Wirtschaftskrise.
- Die russischen Banken sind von westlichen Finanzierungen abgeschnitten.
Warten auf schwere Waffen
Die Ukraine wartet auf die versprochenen schweren amerikanischen Waffen und will die hart umkämpfte ostukrainische Stadt Sewerodonezk halten. Laut Serhiy Haidai, dem militärischen Verantwortlichen der Provinz Luhansk, ist es den Ukrainern gelungen, ein kleines Gebiet des Stadt zurückzuerobern. Zuvor hiess es, die Russen würden 70 Prozent der Stadt beherrschen. Die ukrainischen Verbände sind entschlossen, in Sewerodonesk zu bleiben, bis schwerere Waffen aus dem Westen eintreffen, die den Krieg möglicherweise zu ihren Gunsten wenden könnten. Am Freitag hatten ukrainische Truppen Panzer, schwere Geschütze und Haubitzen in die Stadt transportiert. Sie wurden von russischer Artillerie beschossen.
«Schleichendes Vorrücken»
Die Russen rücken im Donbass «schleichend» vor, erklärt das britische Verteidigungsministerium. Dafür würden Marschflugkörper eingesetzt. In Kombination mit Artilleriebeschuss gelinge es so den Russen, «kleine Fortschritte» zu machen.
Verstärkter Einsatz der Luftwaffe
Russland setzt nun verstärkt seine Luftwaffe ein. Zu Beginn des Krieges war das nicht der Fall, da es den Russen nicht gelang, die ukrainische Luftabwehr zu zerstören und zahlreiche russische Kampfflugzeuge abgeschossen wurden.
Jetzt setzt Russland nach einem Bericht des britischen Geheimdienstes seine Luftstreitkräfte zur Unterstützung von «gelenkten und ungelenkten» Raketenangriffen ein.
«Der kombinierte Einsatz von Luft- und Artillerieangriffen war ein Schlüsselfaktor für Russlands jüngste taktische Erfolge in der Region», heisst es in dem Bericht. Dieser verstärkte Einsatz von ungelenkter Munition hat «mit ziemlicher Sicherheit» zivile Opfer gefordert.
«Unbegreiflich»
Das IKRK, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes erklärte, die Invasion habe Zerstörungen verursacht, die «unbegreiflich» seien. «Man kann den Tribut, den der internationale bewaffnete Konflikt in der Ukraine in den letzten 100 Tagen unter der Zivilbevölkerung gefordert hat, kaum übertreiben.»
Gestärkte ukrainische Identität
Nach Ansicht des ukrainischen Schriftstellers Wolodimir Yermolenko hat der Krieg das ukrainische Nationalgefühl gestärkt. «Mehr Menschen fühlen sich als Ukrainer, selbst diejenigen, die an ihrer ukrainischen und europäischen Identität gezweifelt haben», sagte er. Laut einer Umfrage glauben fast 80 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer, dass sich das Land «in die richtige Richtung» bewegt.
Wie in der Sowjetunion
Konstantin Sonin, ein russischer Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Chicago, sagt, Russland werde angesichts der Wirtschaftskrise wahrscheinlich zu einer stärker zentralisierten Wirtschaftsplanung zurückkehren. Die Regierung werde die Preise festsetzen und die Zuteilung bestimmter knapper Güter, insbesondere der für die militärische Produktion benötigten, übernehmen.
Warten auf eine «Ermüdung des Westens»
Bruno Tertrais, stellvertretender Direktor der in Paris ansässigen «Stiftung für strategische Forschung», rechnet mit einem monatelangen oder gar jahrelangen festgefahrenen Krieg.
«Dies ist kein schlechtes Szenario für Russland, das sein Land in einem Kriegszustand halten und auf die Ermüdung des Westens warten würde», schrieb Tertrais in einem Beitrag für das «Institut Montaigne».
Russland würde bereits bis zu einem gewissen Grad gewinnen, «indem es die besetzten Regionen für lange Zeit unter seine Kontrolle bringt.» Dennoch rechnet Tertrais mit einem «allmählichen materiellen und moralischen Zusammenbruch» der russischen Bemühungen, dies vor allem angesichts der niedrigen Moral der russischen Truppen.
Kloster in Swjatohirsk in Brand geschossen
Russische Truppen haben nach Angaben von Präsident Wolodimir Selenskyj die Allerheiligenkirche in Swjatohirsk in Brand geschossen. «Die Besatzer wissen genau, welches Objekt beschossen wird», sagte er. «Es ist ihnen egal, was sie in Ruinen verwandeln.» Russland macht die Ukraine für den Brand verantwortlich. (Sieh: Ukraine, Tag 101).
Vier internationale Kämpfer getötet
Vier ausländische Kämpfer sind in der Ukraine im Kampf gegen die Russen getötet worden. Sie stammen aus Deutschland, Frankeich, Australien und den Niederlanden. Dies teilte der Sprecher der «Internationalen Legion der Verteidigung der Ukraine», Damien Magrou auf Facebook mit. «Wir möchten uns an unsere gefallenen Brüder erinnern und sie ehren, dass sie in die Ukraine gereist sind, um sich den Tapfersten der Tapferen anzuschliessen und Schulter an Schulter mit den Verteidigern der Ukraine zu kämpfen», so Magrou. «Dies sind die unbesungenen Helden, die hierher kamen, um die Werte zu verteidigen, an die sie glaubten.»
Rakete auf Odessa
Ein aus der Luft abgefeuerter Marschflugkörper schlug am Samstag in der Region Odessa an der ukrainischen Schwarzmeerküste ein Getroffen wurden Lagerhäuser in einem landwirtschaftlich genutzten Gebiet. Zwei Menschen wurden verletzt, erklären lokale Beamte.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21