Natalia (rechts) und ihre Mutter Dina treffen am Montagmorgen in Saporischschja ein. Sie gehörten zu etwa hundert Menschen, die am Sonntag aus der belagerten Hafenstadt Mariupol evakuiert wurden. «Die Hölle gibt es», hatte der Bürgermeister der Schwarzmeer-Stadt gesagt. «Und die Hölle – das ist Mariupol.»
Wird laufend aktualisiert
- Lawrow krebst zurück
- Evakuierte treffen in Saporischschja ein
- Weitere Evakuierungen am Montag geplant
- Erneuter Beschuss von «Asowstal»
- «Wir geben nicht auf»
- Ein Viertel der russischen Bataillone kampfunfähig
- Gerasimow an der Front
- Russische Spione entlarvt
- Lawrows Nazi-Äusserungen sorgen für Entsetzen
Der 9. Mai: Lawrow krebst zurück
Russland hatte gehofft, am 9. Mai, dem «Tag des Sieges über Nazi-Deutschland» einen militärischen Erfolg in der Ukraine verkünden zu können. Allgemein war erwartet worden, dass Putin an diesem Tag, vielleicht während der pompösen Militärparade, «einen grossen Sieg im Osten der Ukraine» feiern wollte.
Doch die Ereignisse auf den Schlachtfeldern laufen für die Russen nicht nach Plan. Das zwingt sie jetzt offenbar dazu, vom 9. Mai als «Tag des Sieges in der Ukraine» abzukommen. «Unsere Soldaten werden ihre Handlungen nicht von einem bestimmten Datum abhängig machen», sagte der russische Aussenminister Sergej Lawrow in einem Interview mit dem italienischen Fernsehen Rete4. «Wir werden unseren Sieg feierlich begehen», sagt Lawrow, «aber der Zeitpunkt und das Tempo der Ereignisse in der Ukraine hängen von der Notwendigkeit ab, die Risiken für die Zivilbevölkerung und die russischen Soldaten zu minimieren.»
Im gleichen Interview sorgte Lawrow wegen eines Nazi-Vergleichs für Empörung (siehe unten).
Weitere Evakuierungen geplant
Die Evakuierung von Zivilisten aus dem Stahlwerk in Mariupol soll nach Angaben ukrainischer und internationaler Beobachter heute Montag fortgesetzt werden. Auch die Bewohner der Stadt und ihrer Umgebung sind eingeladen, sich dem Konvoi anzuschliessen, schrieb die Stadtverwaltung von Mariupol auf Telegramm. Sie dürfen den Konvoi, der von der Uno und dem IKRK überwacht wird, begleiten.
Denys Shleha von der ukrainischen Nationalgarde erklärte gegenüber der BBC, dass sich noch immer «Hunderte» Zivilisten in den Bunkern des belagerten Stahlwerks Asowstal befinden. Es seien mindestens zwei Evakuierungswellen nötig, um alle zu befreien.
Wieder Beschuss das Asowstal-Werks
Die russischen Streitkräfte haben am Montag erneut das Azowstal-Werk in Mariupol mit Artillerie beschossen. Dies bestätigte Swjatoslaw Palamar, stellvertretender Kommandant des Azow-Regiments im Stahlwerk. Der neuerliche Beschuss könnte weitere Evakuierungen gefährden.
«Wir geben nicht auf»
«Wir sind bereit, zurückzuschlagen und haben nicht die Absicht, uns zu ergeben.» Das sagte Swjatoslaw Palamar in Mariupol gegenüber der BBC.
Er hoffe, dass die ukrainischen Behörden und die Führer anderer Länder «alles tun werden, um unsere Garnison aus Mariupol zu evakuieren».
Die Verwundeten seien noch nicht evakuiert worden, «aber wir hoffen, dass sie von hier weggebracht werden können. Ihr Zustand ist ernst, sie brauchen eine angemessene medizinische Behandlung und eine angemessene Ernährung, um sich zu erholen», sagte Palamar.
Die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser sei nach wie vor problematisch, aber die Verbliebenen versuchten, «das, was wir haben, so lange wie möglich zu nutzen».
Kampfunfähige russische Bataillone
In seinem täglichen Update erklärt der Militärgeheimdienst des britischen Verteidigungsministeriums, dass «wahrscheinlich» ein Viertel der russischen taktischen Bataillone «kampfunfähig» gemacht wurden. Mehr als 120 solcher Einheiten seien für die Invasion in der Ukraine eingesetzt worden, teilte das Verteidigungsministerium in einem Tweet mit. Dies entspreche etwa zwei Dritteln der gesamten russischen Bodenkampfkraft.
Die meisten taktischen Bataillone haben nach Angaben der britischen Denkfabrik RUSI 700-800 Mann.
Einige der russischen Eliteeinheiten – darunter auch die WDV-Luftlandetruppen – hätten «höchste Zermürbung» erlitten, so das Verteidigungsministerium weiter.
«Russland wird wahrscheinlich Jahre brauchen, um diese Kräfte wieder aufzubauen», hiess es in einem Tweet.
Gerasimow an der Front
Walery Gerasimow, der ranghöchste russische Offizier, ist an der Front im Osten der Ukraine aufgetaucht. Dies erklären amerikanische und ukrainische Beamte. Laut Militäranalysten sei es äusserst selten, dass hochrangige russische Militärs an die Front geschickt werden. Der Besuch Gerasimows in der Ostukraine zeige, dass Russland alles daran setze, vor dem 9. Mai, dem «Tag des Sieges über Nazi-Deutschland» in der östlichen Ukraine einen Sieg zu erringen. Gemäss amerikanischen Quellen haben die Russen nach wie vor mit logistischen Problemen und Unordnung innerhalb der Armee zu kämpfen. Gerasimow ist Chef des Generalstabs der Streitkräfte Russlands.
Der Besuch in der Nähe von Isjum habe Ende letzter Woche stattgefunden. Die Ukraine habe zu spät davon erfahren, aber dennoch die Stellung angegriffen, wo sich Gerasimow aufgehalten habe. Dabei seien mindestens 200 russische Soldaten, darunter ein General, getötet worden.
Russischer Vorstoss bei Luhansk
Russische Panzerkolonnen versuchen in der Region Luhansk in der östlichen Ukraine vorzudringen. Zuvor hatten die Russen nach Berichten ukrainischer Beamten in Luhansk und Donezk das Gebiet mit Artillerie beschossen. Es würden heftige Kämpfe stattfinden. Die Ukraine hat sich bisher nicht dazu geäussert.
Russische Angriffe bei Saporischschja
Russische Einheiten haben nach Angaben der ukrainischen Nachrichtenagentur «Unian» mehrmals versucht, ukrainische Truppen bei der südukrainischen Stadt Saporischschja einzukesseln. Die Versuche seien abgewehrt worden. Die ukrainischen Verbände seien jetzt dabei, die Frontlinie zu stabilisieren.
Russischer Spion entlarvt
Im ukrainischen Generalstab habe ein russischer Spion gearbeitet, erklärt ein Berater von Präsident Selenskyj. Der Spion habe zu einer Gruppe russischer Agenten gehört, die jetzt entlarvt worden seien. Ziel der Agenten sei es gewesen, mit einer ukrainischen Rakete ein Passagierflugzeug über Russland abzuschiessen, um dann die Ukraine dafür verantwortlich zu machen.
Lawrows Nazi-Aussage sorgt für Empörung
In Anspielung darauf, dass der ukrainische Präsident ein Jude ist, sagte der russische Aussenminister in einem Interview mit einer italienischen Fernsehstation: «Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heisst überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind.»
Der israelische Aussenminister Jair Lapid bezeichnete Lawrows «schrecklichen historischen Fehler» als «unverzeihlich und skandalös». Israel erwarte eine Entschuldigung. Lapid empfahl Lawrow, ein Geschichtsbuch zu lesen. «Meinen Grossvater haben nicht Juden umgebracht, sondern Nazis», sagte Lapid. «Die Ukrainer sind keine Nazis. Nur die Nazis waren Nazis. Nur sie haben die systematische Vernichtung der Juden vorgenommen.» Der Leiter der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Dani Dajan, nannte Lawrows Äusserungen «absurd, wahnhaft, gefährlich und verachtenswert». Israel pflegte bisher eher gute Beziehungen zu Russland.
«Vielleicht werde ich getötet»
Oleg Tinkov, der Gründer einer der grössten russischen Banken, erzählt der New York Times, wie Russland mit ihm umgehe, seit er den Krieg in der Ukraine kritisiert habe.
Nachdem er einen kritischen Beitrag auf Instagram veröffentlicht hatte, nahm die Regierung von Präsident Wladimir Putin Kontakt zu seinen Führungskräften auf und drohte damit, seine Bank zu verstaatlichen, wenn sie nicht die Verbindungen zu ihm abbreche. Letzte Woche verkaufte er seinen 35-prozentigen Anteil an einen russischen Bergbau-Milliardär, was er als einen «verzweifelten Verkauf, einen Notverkauf» bezeichnet, der ihm vom Kreml aufgezwungen wurde.
«Ich konnte nicht über den Preis sprechen», sagte Tinkov. «Es war wie bei einer Geisel – man nimmt, was einem angeboten wird. Ich konnte nicht verhandeln.»
Der 54-jährige Tinkov sprach am Sonntag telefonisch mit der New York Times von einem Ort aus, den er nicht bekannt geben wollte. Er scherzte, er habe zwar die Leukämie überlebt, aber vielleicht «werde ich vom Kreml getötet».
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21