
Blockierte Güterwaggons am Dienstag in Kaliningrad: Der Streit um die russische Exklave könnte zu einer gefährlichen Eskalation führen und die Nato-Staaten in den Krieg hineinziehen.
Kaliningrad (früher: Königsberg) liegt zwischen den beiden EU- und Nato-Mitgliedern Polen und Litauen. Versorgt wird die Exklave durch Eisenbahn- und Gaspipelines von Russland her.
Der baltische Staat Litauen hat letzte Woche angekündigt, dass er den Bahntransport von Gütern, die den EU-Sanktionen unterliegen, vom russischen Festland nach Kaliningrad verbietet. Die Liste umfasst Kohle, Metalle, Baumaterialien und Spitzentechnologie.
«Russland wird sicherlich reagieren»
Das russische Aussenministerium hat nun die sofortige Aufhebung der «offen feindseligen» Beschränkungen gefordert und Litauen vor «ernsten Konsequenzen» gewarnt. Russland «wird sicherlich auf solche feindseligen Handlungen reagieren», sagte der russische Sicherheitsbeamte Nikolai Patruschew.
Bei einem Besuch in Kaliningrad am Dienstag erklärte Patruschew, die litauische Massnahme sei «eine Verletzung des Völkerrechts». Laut Patruschew wird Russland «in naher Zukunft geeignete Massnahmen» treffen, deren «Folgen werden schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Bevölkerung Litauens haben». Weitere Einzelheiten nannte er nicht.
Welche Konsequenzen?
Welche «ernsten Konsequenzen» kann Russland gegen Litauen durchsetzen? Beobachter erklären, wenn Russland Litauen militärisch angreift, «sind wir nicht weit von einem ganz grossen Krieg entfernt». Dann nämlich müssten die anderen Nato-Staaten ins Geschehen eingreifen und Litauen verteidigen.
«Was tut jetzt Russland», fragen Analysten. «Nach solch harten Drohungen müssen die Russen ja etwas tun, um nicht das Gesicht zu verlieren.»
Artikel 5 des Nordatlantikvertrags
Der Sprecher des US-Aussenministeriums, Ned Price, erklärte, die USA stünden zu Litauen. Er erinnert daran, dass laut Artikel 5 des Nato-Vertrags alle Nato-Staaten Litauen im Falle eines russischen Angriffs helfen müssten. Zu dieser Verpflichtung würden die USA «eisenhart» stehen.
Artikel 5 des Nordatlantikvertrags sagt: «Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird ...»
Am Dienstag war der EU-Botschafter wegen der Blockade ins russische Aussenministerium einbestellt worden.
Der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis sagte: «Es ist nicht Litauen, das etwas tut: Es sind die europäischen Sanktionen, die seit dem 17. Juni gelten ... Dies geschah in Absprache mit der Europäischen Kommission und gemäss den Leitlinien der Europäischen Kommission.»
Die EU hat Litauens Erklärung aufgegriffen und erklärt, dass das Land lediglich die Sanktionen umsetzt, die von der EU als Folge des russischen Einmarsches in der Ukraine verhängt wurden.
50% der Waren betroffen
In Kaliningrad ist die russische Ostseeflotte stationiert. Die Exklave ist knapp so gross wie der Kanton Zug.
Die Region, in der schätzungsweise eine Million Menschen leben, ist in hohem Masse auf die Einfuhr von Rohstoffen und Ersatzteilen aus Russland und der EU angewiesen.
Der Gouverneur der Region, Anton Alikhanov, erklärte, das Verbot betreffe etwa 50% der Waren, die Kaliningrad einführt.
«Zum Schutz nationaler Interessen»
«Sollte der Gütertransit zwischen dem Kaliningrader Gebiet und dem übrigen Territorium der Russischen Föderation durch Litauen in naher Zukunft nicht vollständig wiederhergestellt werden, behält sich Russland das Recht vor, Massnahmen zum Schutz seiner nationalen Interessen zu ergreifen», betonte das russische Aussenministerium.
Es habe den litauischen Geschäftsträger in Moskau vorgeladen, um gegen die «provokativen» und «offen feindseligen» Massnahmen zu protestieren.
«Die Situation ist mehr als ernst»
Zuvor hatte der Kreml am Montag erklärt, die Entscheidung Litauens sei «beispiellos» und verstosse «gegen alles, was es gibt».
«Die Situation ist mehr als ernst und erfordert eine sehr gründliche Analyse, bevor irgendwelche Massnahmen und Entscheidungen getroffen werden», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gegenüber Reportern.
Kaliningrad ist nach dem 1946 verstorbenen sowjetischen Politiker Michail Iwanowitsch Kalinin beannt. Er war von 1923 bis 1946 als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets formelles Staatsoberhaupt der Sowjetunion; zuvor von März 1919 bis Dezember 1922 formelles Staatsoberhaupt Sowjetrusslands.
Ukrainische Verluste bei Lyssytschansk
Die ukrainischen Behörden haben den Verlust mehrerer Gemeinden in der Nähe der Stadt Lyssytschansk eingeräumt.
«Die Russen nähern sich Lyssytschansk und verschanzen sich in den umliegenden Ortschaften. Die Stadt wird von Flugzeugen beschossen», sagte Serhiy Haidai, Leiter der Militärverwaltung der Region Luhansk.
«Lyssytschansk steht jetzt unter schwerem Beschuss. Die Stadt wird von Artillerie, Panzern und Flugzeugen beschossen. Es gibt dort mindestens drei verwundete Zivilisten, mehrere Polizisten wurden verletzt», sagte Haidai. Auch Gebäude der Polizei und des Sicherheitsdienstes wurden von Raketen getroffen.
Die Lage in der Region südlich von Lyssytschansk sei «schwierig». «Der Feind ist in Toschkiwka eingedrungen, was es ihm ermöglicht hat, das Feuer auf andere Siedlungen zu verstärken.» Der Fall von Toschkiwka ist ein schwerer Schlag für die Ukrainer. Toschkiwka liegt auf dem südlichen Verteidigungsgürter von Sewerodonezk und Lyssytschansk.
Die russischen Streitkräfte hätten sich in mehreren Dörfern unmittelbar südlich von Lyssytschansk verschanzt, darunter Ustyniwka, Pidlisne und Myrna Dolyna, und seien bei Bila Hora vorgerückt.
«Es ist nicht einfach für unsere Soldaten, die Verteidigung aufrechtzuerhalten», sagte Haidai.
Haidai sagte, dass «die Strassenkämpfe in Sewerodonezk weitergehen». Sewerodonezk ist eine Zwillingsstadt von Lyssytschansk und liegt auf der anderen Seite des Donez-Flusses.
Wieder Charkiw
Russische Streitkräfte sind wieder auf Charkiw, die zweitgrösste ukrainische Stadt, vorgerückt und haben begonnen, mehrere Stadtviertel unter heftigen Beschuss zu nehmen. Dabei wurden 15 Menschen getötet und 16 verwundet, sagte Oleg Sinegubow, der Leiter der Regionalverwaltung von Charkiw, am Dienstag. Die russischen Streitkräfte würden «massenhaft auf Wohngebiete in Charkiw» schiessen, sagte er.
«Die Besatzer schlagen absichtlich auf Wohngebiete ein, in denen es keine militärischen Einrichtungen gibt», sagte er. «Das ist echter Terrorismus gegen Zivilisten.»
Der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, sagte, der Beschuss der Stadt habe sich verschlimmert, sie werde «nachts, morgens und tagsüber» getroffen.
Angriff auf die Schlangeninsel
Ukrainische Streitkräfte haben einen neuen Angriff auf die strategisch wichtige, vor Odessa liegende Schlangeninsel gestartet. Dies deutet darauf hin, dass die Ukrainer potente westliche Schiffsabwehrwaffen erhalten haben. Die Schlangeninsel wird von den Russen kontrolliert.
Das ukrainische Militärkommando Süd erklärte am späten Dienstag, dass es mit «verschiedenen Kräften und Zerstörungsmethoden» gegen die russische Infrastruktur auf der Insel kämpft, die für die Kontrolle des Schwarzen Meeres von entscheidender Bedeutung ist.
Gleichzeitig verteidigten ukrainische Beamte die Angriffe auf russische Bohrinseln im Schwarzen Meer und erklärten, Moskau verwandle seine Bohrinseln in militärische Anlagen, indem es Hightech-Überwachungs- und Kommunikationssysteme auf den Bohrinseln installiere.
Ein russischer Beamter hatte am Montag erklärt, die Ukraine habe drei Erdgasbohrinseln getroffen. Die ukrainische Regierung bestätigte den Angriff nicht. Auf Satellitenbildern der Nasa ist eine brennende Bohrinsel vor der Küste der Krim zu sehen.
Kasachstan gegen Putin
Der kasachische Präsident Kassym Tokajew will die pro-russischen separatistischen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk nicht anerkennen. Kasachstan ist eine frühere Sowjetrepublik. Tokajew gab seinen Entscheid am Wirtschaftsforum in St. Petersburg öffentlich bekannt.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21