
Die Sommerferien sind da, Zeit für etwas Musse. Welche Bücher wollen Sie lesen, am Strand, in den Bergen oder zuhause auf Balkonien? Hier einige Vorschläge von Journal21-Autorinnen und -Autoren.
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Florentine Anders: Die Allee
Fernsehturm und Karl-Marx-Allee sind jedem Berlinreisenden ein Begriff. Doch wer war der Mann, der diese Bauten ersonnen und realisiert hatte? Wer war der Architekt Hermann Henselmann, von dem Wolf Biermann einst sang: «Und Henselmann kriegte Haue/Damit er die Strasse baut/Und weil er sie dann gebaut hat/Hat man ihn wieder verhaut»? Aufschluss gibt nun ein Buch, das eine Enkelin des vor 20 Jahren verstorbenen Chefarchitekten von Ost-Berlin und seiner Frau Isi, Architektin auch sie, geschrieben hat. Es ist zwar kein Roman, aber es liest sich wie einer, spannend, menschlich anrührend und unterhaltsam, und zeigt ein Bild der DDR, das so gar nicht den gängigen Vorstellungen uniformer Eintönigkeit entspricht. Florentine Anders schildert ihren Grossvater als einen, der sich anpasste und doch nie unterwarf, als einen Patriarchen, der seine Frau betrog und seine acht Kinder tyrannisierte, als einen Charismatiker, aber auch als einen, der Menschen begeisterte und seine an der klassischen Moderne geschulten Ideale nie verriet. «Die Allee» ist eine hochkomplexe Familiengeschichte und darüber hinaus ein Sittengemälde der DDR, wie man es so noch nicht zu lesen bekam.
Galiani, Berlin 2025, 352 Seiten
Fabio Lanz: Ikarus
Er hat nun schon zum dritten Mal zugeschlagen: der Krimiautor Fabio Lanz, hinter dem sich Martin Meyer, ehemals Feuilletonchef der NZZ, verbirgt. Und er hat sich noch einmal gesteigert, was die Grausamkeit ausgefallener Todesarten betrifft. Diesmal wird das Opfer – so viel sei verraten – ans Forchdenkmal gekettet, vom Blitz erschlagen. Wie bei diesem Autor wenig erstaunlich, bewegt sich auch seine Kommissarin Sarah Conti wiederum in den besseren Kreisen der Stadt und ist den schönen Künsten zugetan. Aber wie wohl auch ihr Erfinder selbst hat sie gelernt, hinter die feinen Kulissen zu schauen und jene Bruchstellen auszumachen, durch die das Verbrechen sich Einlass verschafft. Im Falle von «Ikarus» ist es ein angesehener Psychiater, der auf derart grausame Weise zu Tode kommt und uns nach und nach erkennen lässt, wie sehr der Schein von Harmonie und Achtbarkeit trügt. Der Roman spielt am heissesten Tag eines zu heissen Sommers und ist deshalb für eine Sommerlektüre besonders geeignet.
Kein & Aber, Zürich 2024, 352 Seiten
Kurt Tucholsky: Schloss Gripsholm
Eine «Sommergeschichte» solle es werden, schreibt Kurt Tucholsky in einem fiktiven Brief an den Verleger Ernst Rowohlt: «eine kleine Geschichte, nicht zu umfangreich, zart im Gefühl, kartoniert, leicht ironisch und mit einem bunten Umschlag». All das ist «Schloss Gripsholm» geworden – und darüber hinaus eine Liebesgeschichte, die so schwebend, so federleicht und so frivol auch daherkommt, dass man die auf die politische Katastrophe hindeutenden dunklen Untertöne beinahe überliest. Desillusioniert und Schlimmstes ahnend hatte Tucholsky Deutschland bereits 1929 den Rücken gekehrt und sich in Schweden niedergelassen, wo auch «Schloss Gripsholm» spielt. 1935, nur vier Jahre nach Erscheinen des kleinen Romans, ist er aus dem Leben geschieden. Sein Grab liegt unweit von Schloss Gripsholm auf dem Friedhof der schwedischen Gemeinde Mariefred. Wenn es nach Tucholsky gegangen wäre, hätte auf dem Grabstein der Spruch stehen sollen: «Hier ruht ein goldenes Herz und eine eiserne Schnauze – gute Nacht!» Das ist genau der Ton, der seine kleine Sommergeschichte so unvergleichlich macht.
Reclam, Leipzig 2020, 160 Seiten
- CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Julian Schütt: Max Frisch. Biographie einer Instanz
14 Jahre hat Julian Schütt gebraucht, um dem ersten Band seiner Frisch-Biografie einen zweiten folgen zu lassen. Nun ist dieser zweite Band unter dem Titel «Max Frisch. Biographie einer Instanz» erschienen. Ein über 700 Seiten dickes Werk liegt uns vor, das keine Fragen offen lässt, ein meisterliches Werk! Frisch ist ja nun wirklich ein ausgehorchter, ausgedruckter Autor: Was von ihm, was über ihn publiziert wurde, was der Nachlass hergibt, das füllt ganze Bücherregale. Schütt gelingt es, den schwierigen Menschen Frisch in seinen Widersprüchen eindrücklich zu porträtieren und zu analysieren. Souverän nutzt er das riesige Material, das ihm zur Verfügung steht, punktet mit subtilen Werkinterpretationen, zeigt uns den Erfolgsautor, den politisch Engagierten, den von Selbstzweifeln Geplagten, den glücklich und unglücklich Liebenden. All das in einem eleganten Stil, der die Lektüre zum reinen Vergnügen macht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 706 Seiten
Yasmina Reza: Die Rückseite des Lebens
Die französische Autorin Yasmina Reza, bekannt durch ihre Romane, Erzählungen, Theaterstücke, hat ein neues Buch geschrieben: kurze Erzählungen wechseln mit persönlichen Erlebnissen ab. In den Erzählungen geht es um französische Strafprozesse, denen Reza beigewohnt hat. Dabei spielen Kippmomente im Leben unauffälliger Bürger, die zu Straftaten führen, eine Rolle. Unvoreingenommen richtet die Autorin ihren scharfen Blick auf die Angeklagten, beschreibt die alles verändernden Momente und bedient sich dabei einer knappen Sprache, die abgründige Komik so gut beherrscht wie schwarze Tragik. Mit dem gleichen scharfen Blick werden Begegnungen, Erlebnisse aus dem Leben der Autorin erzählt. Erstaunlich und überraschend wie sich menschliche Komödie und menschliche Tragödie auf wenigen Seiten erfassen und verschmelzen lassen.
Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Hanser Verlag, München 2025, 200 Seiten
Donatella di Pietrantonio: Die zerbrechliche Zeit
Schauplatz ist ein Dorf in den Abruzzen, unter dem Berg, dem Dente del Lupo gelegen. Hier beginnt und endet eine Familiengeschichte mit schwierigen Beziehungen, eigensinnigen, streitsüchtigen Protagonisten und um Harmonie bedachten Gegenspielerinnen. Die italienische Autorin Donatella di Pietrantonio bringt eine Ich-Erzählerin in Stellung, die sich um alles kümmert, Kontakte pflegt, das Heute mit dem Gestern verbindet. Ein dunkles, ein schreckliches, 30 Jahre altes Geheimnis vergiftet noch immer die Dorfgemeinschaft. Wie das Geheimnis die Gegenwart prägt, wie es schliesslich enthüllt wird – das macht aus dem Roman ein kostbares Stück Prosa.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug, Kunstmann Verlag, München 2024, 224 Seiten
- URS MEIER EMPFIEHLT
Salman Rushdie: Knife. Gedanken nach einem Mordversuch
Am 12. August 2022, 33 Jahre nach der Verhängung der Todes-Fatwa durch Ajatollah Chomeini, wird Rushdie bei einer öffentlichen Veranstaltung in Chautauqua im US-Bundesstaat New York von einem Eindringling mit mehreren Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Anderthalb Jahre danach veröffentlicht der dauerhaft schwer behinderte Autor den autobiographischen Bericht «Knife» über das Attentat und dessen Folgen. Rushdie erzählt in distanzierter Selbstbeobachtung. Oft ist er sarkastisch, aber er gaukelt keine Coolness vor, sondern verschont weder sich selbst noch die Leserschaft mit der vollen Härte und dem unerbittlichen Ernst des Erlebten. «Knife» ist nicht nur eine Anklage gegen religiösen Fanatismus, sondern vor allem ein Zeugnis des von mehreren Beteiligten unterstützten Kampfs zur Rückkehr ins Leben.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Penguin, München 2024, 255 Seiten
José Maria Eça de Queirós: Die Maias. Episoden aus dem romantischen Leben
Die sich über drei Generationen erstreckende Familiensaga aus der portugiesischen Oberschicht Ende des 19. Jahrhunderts ist das Haupt- und Meisterwerk von Eça de Queirós (1845–1900). Im Mittelpunkt des 1888 erschienenen Romans: Carlos de Maia, Abkömmling einer unermesslich reichen Familie, der ein «romantisches Leben» zu führen versucht. Doch sein inneres Feuer ist blosse Illumination, seine heldischen Pläne sind Selbstbetrug eines Privilegierten. Als Leser, geleitet vom scharfen Blick des Romanautors, durchschaut man diese durchaus sympathische Figur nach und nach immer deutlicher und wird zum Beobachter eines zwar unaufhaltsamen, aber weich gebetteten Niedergangs. Eça de Queirós breitet die figurenreiche Geschichte aus als luxuriöses Panorama der Dekadenz. Ein Lesegenuss höchsten Grades!
Neu übersetzt von Marianne Gareis, Hanser, München 2024, 944 Seiten
Martin Pollack: Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater
Der Journalist und Schriftsteller Martin Pollack (1944–2025) erforscht in diesem Buch die eigene Familiengeschichte, in der sich die noch immer verdrängte Geschichte der österreichischen NS-Verstrickung spiegelt. Pollack ist der uneheliche Sohn eines SS-Sturmbannführers, dessen Leiche 1947 in einem Bunker an der österreichisch-italienischen Grenze gefunden wurde. Fünfzig Jahre später beginnt Pollack das Leben seines Vaters und dessen familiäres Umfeld zu erforschen. Er trifft auf eine Welt des fanatischen Deutschtums, des zur Selbstverständlichkeit gewordenen Antisemitismus und einer nachträglichen Uneinsichtigkeit, die sich darauf versteift, man sei «immer anständig geblieben». Pollack legt das Bild eines NS-Alltags frei, der geradezu zwangsläufig aus einem biederen Gemenge von Borniertheit, Selbstgerechtigkeit, Nationalismus und Empathielosigkeit erwachsen ist.
Originalausgabe: Zsolnay 2004, jetzt dtv, München 2024, 256 Seiten
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933
In unserer unheimlichen Zeit der Wiederkehr des Faschismus in vielfältigen Formen erweist sich das Buch von Sebastian Haffner als ein Zeugnis, in dem sich die Leser wiedererkennen. Denn er beschreibt sich als «einen Deutschen», der seine Zeit zwar kritisch sieht und an ihr leidet, zugleich aber auch von ihr geprägt wird. Dazu verwendet er eine literarische Sprache, in der er seine subjektiven Empfindungen und seine nüchternen Analysen kunstvoll verbindet. Das Buch schrieb Haffner 1939, kurz nachdem er nach England gegangen war. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung urteillt: «Die Hellsichtigkeit seines Buches ist – viele zeitgeschichtliche Darstellungen später – immer noch unerreicht. Sebastian Haffner macht begreiflich, wie Hitler möglich wurde.» Und vielleicht begreifen wir etwas besser, was in diesen Jahren noch alles möglich wird.
Pantheon, 8. Auflage, München 2014, 304 Seiten
David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien
In den Nachkriegsjahren gab es in Deutschland hin und wieder grosse Aufregung darüber, dass alte Nazigrössen ihre Karrieren in der Verwaltung, den Parlamenten, den Hochschulen und anderen Institutionen problemlos fortsetzen konnten. Dabei blieb aber ein riesengrosser blinder Fleck: Kaum jemand sprach über die fatale personelle Kontinuität in den mächtigsten Unternehmen, die unter Hitler das ganz grosse Geld gemacht haben. So wollte fast jeder einen Volkswagen, aber kaum jemand störte sich daran, dass dieses Fahrzeug seinerzeit von Ferdinand Porsche gewissermassen als Morgengabe für Hitler entwickelt worden war. David de Jong berichtet äusserst kenntnisreich und detailliert über die Verwicklungen der Banken und der Konzerne mit dem Naziregime. Grosses Geld liebt Diktatoren. Darüber schreibt er so flüssig und anschaulich, dass dieses Buch zugleich beste Unterhaltung bietet.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 496 Seiten
Szczepan Twardoch: Die Nulllinie. Roman aus dem Krieg
Szczepan Twardoch hatte ursprünglich vor, seine Erfahrungen im Krieg mit Russland in einer oder mehreren Reportagen zu schildern. Dabei gelang es ihm aber nicht, so dicht an die Geschehnisse und die Menschen zu kommen, wie er es für notwendig hielt. Und so ging er das Wagnis eines Romans ein. Die Form der Fiktion kann realistischer sein als direkte Beschreibung. Dazu entwickelt Szczepan Twardoch eine Sprache, die wieder und wieder höchste literarische Qualität erreicht. So entstehen Bilder vom Kriegsgeschehen, die sich speziell den westlichen Perspektiven bislang verschlossen haben. Das ist kein schönes Buch, aber man kann nicht aufhören, darin zu lesen. Denn Szczepan Twardoch bringt uns Mentalitäten und Menschen nahe, die wir ebenso wenig verstehen würden wie sie uns. Aber sie stehen für Europa an der Front. Ihr Verlauf, an dem sich die Soldaten am nächsten kommen, wird als «Nulllinie» bezeichnet. Das Buch ist gerade erst erschienen, aber die Kritik ist sich einig, dass es sich dabei um einen ganz grossen Wurf handelt.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Rowohlt, Berlin 2025, 256 Seiten
- IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Carl Hiaasen: Fever Beach
Was immer er nicht ist, für Amerikas Satirikerinnen und Satiriker ist Donald Trump ein Geschenk, das immer wieder Freude bereitet – nicht nur für jene Komikerinnen und Komiker abends am Fernsehen, sondern bei Tageslicht auch wiederholt für Autoren wie Carl Hiaasen. In Florida domiziliert, wo das Leben mitunter die Satire imitiert, nimmt sich der Schriftsteller in «Fever Beach» einen Verlierer namens Dale Figgo vor, der auf Teufel komm raus, aber mit minimalen geistigen Ressourcen seine eigene rechtsextreme Miliz etablieren will, um prominent im MAGA-Orchester mitspielen zu können. In sein ambitioniertes Projekt sind ein schmieriger Politiker, ein korrupter Bauunternehmer und schlechte Freunde involviert. Dafür, dass der ganze Plan spektakulär explodiert, sind ein idealistischer reicher Erbe und dessen bodenständige Freundin clever verantwortlich. Und Floridas MAGA wird als hohl und leer entlarvt.
Alfred A. Knopf, New York 2025, 364 Seiten
Lawrence Wright: The Human Scale
Der amerikanische Pulitzerpreis-Träger Lawrence Wright, Autor eines Standardwerks über 9/11, kennt den Nahen Osten und dessen teils fragwürdige Akteure besser, als ihm lieb ist. In «The Human Scale» thematisiert er Israels Besetzung des Westjordanlands und deren verhängnisvolle Folgen für Besetzer und Besetzte. Die Handlung folgt in Hebron einem palästinensischen FBI-Agenten und einem israelischen Polizisten, die eher widerwillig kooperierend versuchen, eine Verschwörung fanatischer jüdischer Siedler aufzudecken. Diese terrorisieren die einheimische Bevölkerung, wogegen sich Militante der Hamas mit dem Attentat auf eine Polizeistation wehren. Wrights Buch besticht nicht nur durch die treffende Zeichnung seiner Akteurinnen und Akteure, sondern funktioniert auch als ein unbestechlicher Führer durch die Geschichte des scheinbar unlösbaren Nahost-Konflikts.
Alfred A. Knopf, New York 2024, 425 Seiten
Omar El Akkad: One Day, Everyone Will Have Always Been Against This
Der Bucheinband zeigt eine tödliche Rakete, die auf ein kleines Mädchen fällt. Das blutrote Cover signalisiert, worum es dem ägyptisch-kanadischen Autor Omar El Akkad in seinem aufrüttelnden Werk geht: um das obszöne Sterben Zehntausender in Gaza, auf das Amerika und Europa meist nur mit einer Art Schulterzucken reagieren, ohne auf das Töten und Zerstören mit Sanktionen oder mit der Durchsetzung internationalen Rechts zu reagieren, das ein so radikales Vorgehen wie jenes der israelischen Armee im Küstenstreifen verbietet. Der Tonfall des Buchs ist bewusst polemisch gehalten, um Leserinnen und Leser aus ihrer Apathie gegenüber dem Leid in Gaza wachzurütteln, das westlichen Moral- und Rechtsvorstellungen zwar weitgehend widerspricht, aber höchstens in salbungsvoller Rhetorik resultiert. Als ob leere Worte Tote lebendig machen, Hungernde ernähren und Verletzte heilen könnten.
Alfred A. Knopf, New York 2025, 187 Seiten
- ROLF APP EMPFIEHLT
Gil Ribeiro: Lautlose Feinde
Feriengefühle kommen auf. Da ist eine bunte Polizistentruppe im portugiesischen Fuseta, in ihrer Mitte Leander Lost, ein Autist mit aussergewöhnlichem Merkvermögen und der Neigung, alles wörtlich zu nehmen. Doch dann kommt ein seltsamer Koffer ins Bild, ein kalter Krieg, der in einen heissen kippen könnte, mehrere Russen, ein Amerikaner. So wird aus der Entführung eines Kleinkinds sehr rasch mehr. Souverän jongliert Gil Ribeiro die verschiedenen Handlungsstränge seines neuen Portugal-Krimis und ist dabei nie um wunderbar knapp geschilderte Szenen und sinnliche Naturschilderungen verlegen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 342 Seiten
Lukas Maisel: Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete
CTAPT – «Start» – leuchtet in blutroten Lettern in dieser Nacht im September 1983 über Stanislaw Petrow in jener sowjetischen Überwachungsstation, die das Riesenreich vor einem atomaren Angriff der Amerikaner schützen soll. Was soll er tun? Den Angriff melden, auf die Gefahr hin, dass Moskau zurückschlägt? Doch Petrow tut – nichts. Er wartet. In seinem schmalen Buch über einen wahren Helden beschreibt Lukas Maisel mit grosser Einfühlsamkeit die bangen Minuten, die dann folgen.
Rowohlt, Hamburg 2025, 121 Seiten
Antonio Scurati: M – Das Buch des Krieges
Kann man eine Zeit beschreiben, indem man sie mit den Augen der Mächtigen betrachtet? In drei Romanen hat Antonio Scurati bereits ebenso sprachgewaltig wie formal überzeugend den Aufstieg des italienischen Diktators Benito Mussolini, seine Selbstbehauptung und seinen Weg ins verhängnisvolle Bündnis mit Hitler beschrieben. Jetzt folgt eine deprimierend-lächerliche Bilanz der Jahre 1940 bis 1943, mit hochfliegenden Träumen von einem italienischen Mittelmeerreich, mit leeren Versprechungen und einem murrenden Volk, und mit einer nicht abreissenden Kette blutiger Niederlagen. Man dürfe nicht vergessen, dass die Italiener als Aggressoren und Invasoren überall dort kämpften, wohin der Faschismus sie zu töten und zu sterben verdammt hatte: in Griechenland und Albanien, in Nordafrika, in Jugoslawien und in Russland, schreibt Scurati im Vorwort. Aber diese Gewissheit «darf uns nicht vergessen machen, dass die unselige, vernunftwidrige, verbohrte Entschlossenheit der Faschisten, unsere Väter und Grossväter in den Reihen der Nazi-Verbrecher kämpfen zu lassen, nicht nur die Angegriffenen, sondern auch die Angreifer zu Opfern machte. Ein ganzes Volk endete im Schlachthaus der Geschichte. Unser Volk.» Wie das geschehen konnte, das kann man hier studieren – auch für die Zukunft.
Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 667 Seiten
- GISELA BLAU EMPFIEHLT
Thomas Borer: Die Task Force Schweiz - Zweiter Weltkrieg
Als junger aufstrebende Diplomat im schweizerischen Aussenministerium wurde Thomas Borer 1996 als Chef einer Task Force berufen. Sie sollte in der grössten Staatskrise seit dem zweiten Weltkrieg rund um die nachrichtenlosen Vermögen ermordeter Juden und die Fehler des Schweizer Bundesrates das Ansehen der Schweizer Behörden und vor allem der Banken dank seiner Kenntnisse der amerikanischen Mentalität in Ordnung bringen. Drei Jahre lang arbeitete die Gruppe an dieser gewaltigen Aufgabe und löste sie hervorragend. Jetzt hat Thomas Borer ein monumentales Werk in fünf Bänden über seine Arbeit an dieser Aufgabe und über die Zeit der Task Force geschrieben, grossartig recherchiert und in flüssigem, leicht lesbarem Stil. Eine Pflichtlektüre für alle, die sich für die Personen und Ereignisse der Zeitgeschichte interessieren. Obwohl Borer sehr objektiv bleibt, kommt vor allem die Landesregierung lamentabel weg.
Books on Demand, 2025, fünf Bände
Harald Feller: Retter von Verfolgten, Gefangener von Stalin
Als Eva Koralnik-Rottenberg ein kleines Mädchen war, wurden sie, ihre Mutter und ihre wenige Wochen alte Schwester Vera durch den jungen Schweizer Diplomaten Harald Feller aus dem Nazi-besetzten Budapest per Eisenbahn zurück in die Schweiz gerettet. Als sie längst eine bekannte Literaturagentin und ihre Schwester Bundesrichterin war, traf sie einen Historiker des EDA und machte ihn auf die Geschichte und das Schicksal von Harald Feller aufmerksam. François Wissard schrieb sie daraufhin auf. Eine sorgfältig recherchierte Biografie dieses Diplomaten aus der gefährlichen Zeit in Ungarn und im sowjetischen Gefängnis. Sie liest sich wie ein Thriller.
Elfundzehn, 2025, 250 Seiten
- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
George Eliot: Adam Bede
Gerade in politisch aufgewühlten Zeiten gibt es kaum Besseres zur Ablenkung, als sich in einen dicken Roman zu vertiefen und so in andere Welten einzutauchen. Das 700 Seiten starke Buch «Adam Bede» von George Eliot ist dafür bestens geeignet. Es ist der erste Roman der englischen Schriftstellerin, die eigentlich Mary Anne Evans hiess und die sich mit ihrem Meisterwerk «Middlemarch» unter die ganz grossen Namen der Weltliteratur eingereiht hat. Auch dieses erste Werk spielt in der englischen Provinz, Ende 18. Jahrhundert. Der tüchtige Zimmermann Adam Bede verliebt sich in die bildschöne, aber naive Hetty Sorel. Doch diese lässt sich vom Landedelmann Arthur bezirzen. In epischer Breite entspinnt sich ein zunehmend dramatisches Beziehungsgeflecht, das lebendige Einblicke in die feudalen Machtverhältnisse und Moralvorstellungen im damaligen England vermittelt. Gleichzeitig erweist sich die Autorin als profunde Kennerin menschlicher Seelenregungen, die weit über den historischen Kontext hinaus zu bewegen vermögen.
Reclam, Ditzingen 2022, 732 Seiten
Cyrill Stieger: Wander-Orte. Literarische Werke und ihre Schauplätze
«Ich wandere gern, ich lese gern», schreibt Cyrill Stieger im Vorwort seines Buches. Er erzählt darin, wie sich diese Passionen ideal verbinden lassen. Der Autor beschreibt 18 Wanderungen auf den Spuren bekannter Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der Schweiz und verknüpft diese Landschaftserfahrungen mit Verbindungen zu deren Biografien und Werken. Ich selbst habe mich unlängst von Stiegers Schilderung über die Verbundenheit Gottfried Kellers mit dem Herkunftsort seiner Eltern zu einem Besuch des früheren Bauerndorfs Glattfelden im Zürcher Unterland inspirieren lassen – und war begeistert von der historischen Aura des dortigen Gottfried-Keller-Zentrums und seinen biografischen Schätzen. Andere literarische und landschaftliche Entdeckungen führen über illustre Namen wie Robert Walser, Erich Maria Remarque, Carl Zuckmayer, Karl Kraus bis zu Dürrenmatt und Goethe. Ortsnahe Bilder des Fotografen Marcel Steiner bereichern den Band.
Orte, Schwellbrunn 2025, 2014 Seiten
Rudolf Hermann, Andreas Doepfner: Von der Eiswüste zur Arena der Grossmächte
Seit der nie um verblüffende oder irritierende Einfälle verlegene US-Präsident Trump Anspruch auf Grönland erhebt, ist die flächenmässig grösste Insel der Welt auch für nicht arktische Spezialisten zu einem brisanten weltpolitischen Thema geworden. Die beiden früheren NZZ-Journalisten Rudolf Hermann und Andreas Doepfner, die sich lange vor Trump und sicher gründlicher als dieser mit der arktischen Region beschäftigten, bieten vertiefte Einblicke in die Geschichte, die dramatischen klimatischen Veränderungen und die daraus sich abzeichnenden wirtschaftlichen und verkehrspolitischen Möglichkeiten für die bisher nur schwach besiedelte Eiswüste. Skizziert werden ebenso die damit verbundenen machtpolitischen Ambitionen, nicht nur der anrainenden Grossmächte USA und Russland, sondern auch die langfristig ausgerichteten Investitionspläne Chinas. Bis auf weiteres aber bleibt Grönland eine autonome Region des dänischen Königreichs. Ein Nahziel, auf das sich die knapp 35’000 stimmberechtigten Grönländer allenfalls einigen könnten, ist die volle Unabhängigkeit ihrer Insel.
NZZ Libro, Zürich 2025, 230 Seiten
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Guy de Maupassant: Bel-Ami
Da wird intrigiert und betrogen. Überall Eifersucht. Jede schläft mit jedem und jeder mit allen. Da treten Minister und Dirnen auf, Grafen und Gräfinnen, Industrielle und Chefredaktoren, Politiker und Künstler. Ein Mann stürmt mit der Polizei eine Wohnung, in der er seine untreue Frau vermutet. Die Tür wird aufgebrochen. Seine Frau steht halbnackt da. Der Liebhaber versteckt sich unter der Decke. Und wer ist der Liebhaber? Der Aussenminister. Der Weltbestseller von Guy de Maupassant, der vier Mal verfilmt wurde, war im späten 19. Jahrhundert eines der meistverkauften Bücher in Frankreich. Doch auch heute hat der Roman das Zeug für ein quirliges Sommerbuch, das nicht immer ganz jugendfrei ist. Vieles liest sich wie ein Dreigroschenroman. Doch hinter der leichten Schreibe verbirgt sich ein grossartiges, fesselndes Gemälde der höheren französischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Zu Maupassants Bewunderern gehörten Thomas Mann, Pirandello und Tolstoi. Ein entpannendes Sommerbuch.
Suhrkamp, Insel, Berlin, Broschur 414 Seiten mit zeitgenössischen Illustrationen
Karl-Wilhelm Weeber: Als Rom noch nicht Antike war
Durch die Strassen ziehen betrunkene Jugendbanden. Sie pöbeln Passanten an, zetteln Schlägereien an, dringen in Kneipen und Läden ein, zertrümmern das Material. Das gab es schon damals, vor zweitausend Jahren – damals im alten Rom. In seinem neuen Buch schildert Karl-Wilhelm Weeber, Honorarprofessor für Alte Geschichte, das alte Rom als tolerante, weltoffene Stadt. Da war selbst Platz für jugendliche Pöbeleien. Zwar gab es auch damals Stimmen, die von Sittenverderbnis warnten, vor zu viel Verkehr, vor Lärm, vor Überfremdung und hohen Mieten. Doch das waren Ausnahmen. Rom war ein Magnet für Ausländer. Es gab eine eigentliche Willkommenskultur. Rassismus war der Antike fremd. In der Stadt waren 80 Prozent der Bevölkerung arm. Weeber zeigt uns nicht nur das Rom, das wir kennen, das Rom der Mächtigen, der Kaiser, der Senatoren, der Gladiatoren. Er zeigt uns das Rom der einfachen Leute und schildert ihre schwierigen Lebensverhältnisse. Lebenslange Erwerbstätigkeit war im alten Rom eine Selbstverständlichkeit. Man arbeitete sieben Tage. Wer es nicht mehr konnte und arm war, dem blieb oft nur die Bettelei oder der Suizid. Zum Alter hatten die Römer ein gespaltenes Verhältnis. Die einen sagtet, man solle die Sechzigjährigen von der Tiberbrücke in den Tod stossen. Andere, wie Cicero, verehrten das Alter.
Galiani, Berlin 2025, 430 Seiten
Elmar Thevessen: Deadline
Eigentlich sollte man sich nicht den Sommer verderben lassen und solch ein beklemmendes Buch lesen. Und doch. Man soll ja wissen, was auf uns zukommen könnte. Das neue Buch des ZDF-Korrespondenten in den USA zeichnet ein extrem düsteres Bild. Panikmache? Nein, gar nicht. Das Buch ist unpolemisch, sachlich, gut dokumentiert, angehäuft mit Fakten und vielen Interviews. Elmar Thevessen schliesst nicht aus, dass die Demokratie in den USA ausgehebelt wird und Trump ein quasi-diktatorisches Regime aufbauen will. Mit schrecklichen Konsequenzen für die USA, Europa und die ganze Welt. Schon jetzt setzt er sich skrupellos über Gesetze, Regeln und internationale Verträge hinweg, und schon jetzt zwingt er die halbe Welt in die Knie. Wer ihm dabei im Weg steht, den fegt er beiseite. Thevessen spricht von einer regelrechten Säuberungswelle. Thevessen, ein guter Amerika-Kenner glaubt nicht, dass sich bald etwas zum Besseren wendet. Im Gegenteil, es könnte noch schlimmer werden. Und Europa? Der alte Kontinent sollte endlich frecher und geschlossener auftreten. Denn eigentlich hat Europa mehr zu bieten als die USA. Geschlossen auftreten? Davon sind wir noch weit entfernt. Vielleicht trägt dieses Buch dazu bei, die Europäer endlich aufzurütteln. Denn lassen sie sich von Trump weiter auseinanderdividieren, könnte uns das teuer zu stehen kommen. Ein wichtiges Buch.
Piper, München 2025, 288 Seiten