
Was für ein Abend! Am Schluss brandete Philippe Jordan ein nicht enden wollender Applaus-Sturm entgegen. Bravo-Rufe von allen Seiten, Blumen und wieder tosender Applaus … Standing Ovation, fast eine halbe Stunde lang.
Es war der Abschied des Schweizer Dirigenten Philippe Jordan nach fünf Jahren als Musikdirektor an der Wiener Staatsoper, der Hochburg des europäischen Operngeschehens. Aufgeführt wurde an diesem denkwürdigen Abend Richard Wagners «Götterdämmerung» als Abschluss des gesamten Rings unter Jordans Leitung. Schon zu Beginn der Vorstellung gab es lautstarken Begrüssungsapplaus, als er vor das Orchester trat. Die Wiener haben Jordan ins Herz geschlossen. Und eigentlich möchten sie ihn nicht ziehen lassen.
Ein berührender Abend auch für Philippe Jordan persönlich. Der Dank des Publikums für fünf Jahre intensiver Arbeit an der Staatsoper. «Die Geschichte dieses Hauses eine Zeitlang zu begleiten, mitzugestalten und zu beeinflussen, mit allem was dazu gehört natürlich: Drama, Knatsch, Leidenschaft und all’ das … da bin ich sehr dankbar, dass ich dabei sein konnte», sagt er und man spürt, wie sehr dieser Abschied auch Philippe Jordan in Herz und Seele bewegt.
Zufall oder tiefere Bedeutung?
Und nun also Richard Wagners «Götterdämmerung» als letzte Vorstellung zum Abschied. Zufall – oder tiefere Bedeutung? «Beides, mehr oder weniger …», meint Jordan tags zuvor im Gespräch. Denn der Zufall hat tatsächlich mitunter tiefere Bedeutung. «Nur Eines will ich noch … das Ende!», zitiert er den Göttervater Wotan mit etwas Ironie. «Der ‘Ring des Nibelungen’ hat eigentlich seit Jugendjahren eine symbolische Bedeutung für mich», sagt Jordan. «Ich habe ihn in Zürich gemacht, in Paris, in New York und Berlin. Als Musikdirektor der Wiener Staatsoper war es mir wichtig, ihn auch hier aufzuführen. Und mit diesem Staatsopernorchester ist das nun zum Abschluss eine grosse Freude.»
Fünf Jahre Wiener Staatsoper. Welche Produktion war für Philippe Jordan in dieser Zeit seine liebste? «’Die Meistersinger’, inszeniert von Keith Warner. Das war im dritten Jahr und ich hatte das Gefühl: hier stimmt alles. Sehr poetisch, sehr humoristisch, mit viel Gefühl für das Stück, mit wundervollen Sängern, angefangen mit Michael Volle als Sachs und und und … es hat alles gestimmt, und dann mit diesem Orchester!» Philippe Jordan kann nicht genug schwärmen.
Und wie blickt er nun zurück auf die fünf Jahre als Musikdirektor an der Staatsoper? «Mit grosser Dankbarkeit», betont er. «Es ist die Krönung meiner Opernkarriere gewesen und auch der Abschluss meiner Opernlaufbahn. Es ist jetzt meine 31. Spielzeit, und während dieser Zeit war ich in erster Linie Operndirigent. Erst in Graz, dann zwölf Jahre an der Pariser Oper und jetzt zum Abschluss an der Wiener Staatsoper. Und das war schon etwas Besonderes, denn die Wiener Staatsoper ist im Moment das beste Opernhaus und sie ist unerreicht. Das liegt vor allem an diesem grossartigen Orchester und natürlich an der Geschichte dieses Hauses.»
Das wunderbare verrückte Haus …
Zur Geschichte dieses Hauses scheint aber auch der Knatsch zu gehören. Wie ein roter Faden ziehen sich Querelen, Intrigen und Meinungsverschiedenheiten zwischen der Direktion und den Künstlern, insbesondere mit den Chefdirigenten, durch die Jahre und Spielzeiten des Hauses. «Ja, das scheint in dem Haus zu stecken», sagt Philippe Jordan. «Das wusste ich auch, als ich diesen Job angenommen habe, mit allem Respekt vor meinen Vorgängern, angefangen von Gustav Mahler, über Richard Strauss, Clemens Krauss, Karl Böhm, Claudio Abbado bis zu Franz Welser-Möst. Sie alle sind im Streit ausgeschieden oder sind krank geworden. Das war mir klar, und ich wusste, dass ein Scheitern durchaus drin liegt, wenn man den Job annimmt. Das gehört dazu. Ich habe lange überlegt und mir dann gesagt: Ok, es geht vielleicht gar nicht darum, ob man es schafft. Mal gelingt es besser, mal weniger. Es geht immer darum, dieses wunderbare, verrückte Haus eine Zeitlang zu begleiten und das Geschehen mitzuprägen. Und wenn die Zeit vorbei ist, ist sie vorbei … So habe ich es eher pragmatisch gesehen.»
Ein anderes Problem sieht Philippe Jordan in der heutigen Struktur, nicht nur der Staatsoper, sondern auch in anderen Theatern. «Wir leben in einer Zeit, in der ein Musikdirektor – oder Generalmusikdirektor, wie andere Häuser es nennen – immer die Nummer zwei neben dem Intendanten ist. Und eigentlich gehörte doch ein Künstler mit all’ seinem Wissen und Können an die Spitze. Allerdings ist dies heute nicht mehr möglich, weil zu viele andere Sachen wichtig sind: Managerqualitäten, Public Relations, Politics, Mäzene suchen, Sponsoren finden, ja, man muss sich ums Geld kümmern, da kommt viel auf einen zu … Ein Künstler ist heutzutage nicht in der Lage, so viel zu machen. Ich würde mir das auch nicht zutrauen. Aber in dieser Konstruktion ist die Gefahr vom Scheitern leider schon programmiert, auch wenn man mit besten Absichten und im besten Einverständnis anfängt.»
Unterschied von Paris und Wien
Als Philippe Jordan mit Beginn der Spielzeit 2020/21 zur Wiener Staatsoper kam, hatte er bereits sieben Jahre Erfahrung als Chefdirigent des anderen grossen Wiener Orchesters, der Wiener Symphoniker. War das ein Vorteil? «Absolut. Das war ja auch einer der Gründe, warum ich den Job an der Staatsoper bekommen habe.»
Erfahrung mit einem grossen Opernbetrieb hatte Philippe Jordan natürlich zuvor auch an der Pariser Oper sammeln können, wo er zwölf Jahre für das musikalische Geschehen zuständig war. Wo sieht er da die Unterschiede zwischen Paris und Wien? «Also, in Paris hat die Oper einen hohen Stellenwert, insbesondere auch das Ballett. Aber im Pariser Kulturleben spielen auch Film, Kunst, Literatur und Mode eine grosse Rolle. Noch im 19. Jahrhundert war Paris der Mittelpunkt für Oper gewesen, weit vor Wien. Das ist heute nicht mehr der Fall. In Wien dagegen stehen inzwischen Musik und Theater absolut an erster Stelle. Und Paris ist auch insofern anders, weil es in zwei Häuser aufgeteilt ist. Die prächtige Opéra Garnier entspricht ungefähr der Wiener Staatsoper, dazu gibt es aber auch diesen Riesentanker, die Opéra Bastille, die unglaublich viele Möglichkeiten bietet. Es ist sozusagen eine Fabrik mit doppelt so vielen Mitarbeitern, ein Riesenbetrieb. Die Wiener Staatsoper ist dagegen ein Theater geblieben. Schon die Mauern der Staatsoper … da atmet alles das Künstlerleben. Und: Paris ist ein Stagione-Haus, Wien ein Repertoire-Betrieb.» In Paris werde ein Stück immer in der gleichen Orchester-Besetzung gespielt und Wiederaufnahmen würden geprobt wie eine Premiere. Bei den rund 60 Werken, die dagegen in Wien auf dem Spielplan stünden, gehe das nicht. Stattdessen jeden Abend etwas anderes mit viel weniger Proben in kürzerer Zeit. Was aber nicht unbedingt nur Nachteile hat. «Als wir z. B. den ‘Tristan’ als Neuproduktion gemacht haben, gab es Proben, eine schöne Premiere und eine erste Serie von Vorstellungen. Dann, ein halbes Jahr später, kam die Wiederaufnahme ganz ohne Orchesterprobe. Da ist mir aufgefallen, dass das Orchester ohne neue Probe viel besser spielte, nämlich mit Spontaneität und einem gewissen Nervenkitzel. Einfach grossartig, was da möglich ist!»
In der Sackgasse
Philippe Jordans persönliches Ziel an der Staatsoper war es, «mit dem besten Opernorchester, das es gibt», neue Erfahrungen zu sammeln. «Ich kam als Musikdirektor, um diesem Haus mit meinem bisherigen Wissen, meinem Können, meiner Begeisterung und mit allem, was ich in meiner Laufbahn gelernt habe, möglichst hohe Qualität zu bringen und tolle Vorstellungen. Das war die ursprüngliche Idee: natürlich auch eine Form von Theater und Oper für das 21. Jahrhundert zu entwickeln. Das war mein Ziel: eine Einheit von Bühne und Musik, was nichts mehr mit dem inzwischen veralteten, sogenannten ‘Regie-Theater’ zu tun hat. Dieses Unterfangen ist gescheitert. Das schafft man nicht in fünf Jahren, aber es bleibt mein Ideal. Was ist der nächste Schritt, das hätte mich interessiert. Aber wir stecken in einer Sackgasse. In verschiedenen Produktionen sind wir diesem Ideal immerhin sehr nahegekommen.»
Man merkt: Philippe Jordan beschäftigt die Situation sehr. «Oft geht es den Regisseuren nicht um das Stück selbst und wie man es auf die Bühne bringt, sondern vor allem darum, was sie selbst dazu zu sagen haben. Mittlerweile fehlt vielen schlicht das Handwerk. Sie können keine Noten lesen, sind schlecht vorbereitet und können weder mit dem Chor noch mit den Sängern richtig umgehen.» Lichtblicke sieht er da an ganz anderen Horizonten: «Die englische Oper ist interessant, aber auch der Broadway. Dort geht es nur um Können und es passiert so viel Neues im Moment. Es hätte mich interessiert, da anzusetzen und sich inspirieren zu lassen, aber dafür braucht man mehr Zeit».
Wie weiter?
Ganz ohne Oper soll es jedoch nicht weitergehen. «Ein-, zweimal pro Jahr möchte ich – hoffentlich unter guten Bedingungen – als Gast-Dirigent eine Oper leiten. Ich liebe Oper nach wie vor, möchte aber nicht mehr die Verantwortung als Musik-Direktor übernehmen. Der Beruf kostet unheimlich viel Energie und Kraft: die Proben, die Vorstellungen, die Emotionen, die damit verbunden sind, die Egos, mit denen man umgehen muss … man muss auch mal streiten und sich wehren können. Man muss vermitteln und moderieren. Jeder Tag ist ein Kompromiss. Oper ist Kompromiss. Im besten Fall Synthese. Es braucht Leidenschaft und viel, viel Kraft.»
Eine Art Supplément mit dem Staatsopernorchester gibt es für Philippe Jordan im Oktober. «Dann reisen wir zu einem Gastspiel vom ‘Rosenkavalier’ nach Japan.» Und an den Salzburger Festspielen im Sommer steht noch einmal «Macbeth» auf dem Programm mit den Wiener Philharmonikern.
Dann wird es eine längere Zäsur von der Wiener Staatsoper geben. «Ich brauche eine Pause von dem Haus und das Haus braucht eine Pause von mir.»
Pause haben jetzt beide. Die Staatsoper ist über den Sommer geschlossen und Philippe Jordan hat sich in die Ferien abgesetzt. Weg-von-allem und Ausspannen, steht jetzt auf dem Programm. Dann, in zwei Jahren, wartet das «Orchestre national de France» in Paris auf ihn. «Das ist für mich ideal. Ich hatte ein Sinfonieorchester gesucht, das mir im Klang und auch menschlich liegt, und in einer Stadt, in der ich gern wieder leben möchte. Da ist Paris ideal, denn das Publikum und ich, wir kennen uns bereits.» Und nachdem er so viel Zeit an grossen Opernhäusern verbracht habe, sei er jetzt in einem Lebensabschnitt, in dem er sich hauptsächlich auf das Orchesterrepertoire konzentrieren möchte. Auch in der Schweiz wird Philippe Jordan dann auftreten. «Darauf freue ich mich! Im Dezember bin ich in der Tonhalle mit einem französischen Programm. Im Jahr drauf für ein Konzert im Opernhaus Zürich, in Genf, Lausanne und es gibt sogar ein Konzert mit dem Scala-Orchester in Sion!»
Dies alles aber erst in der neuen Saison. «Jetzt brauche ich erst einmal etwas Zeit, um wieder Kräfte zu sammeln. Und dann möchte ich in diesen zwei Jahren, bevor ich nach Paris gehe, vielleicht nur halb so viel machen, neue Impulse finden, mehr in die Natur raus … und einfach nur leben.»