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UNTERWEGS 2024/05

Sempachersee: Treppe am Ende der Sackgasse

9. Juni 2024
Dieter Imboden
Sempachersee

Ein Ausflug an den Sempachersee macht dasjenige lebendig, was im Alter zu unseren wichtigsten Begleitern gehört: Menschen und Erinnerungen.

Um die Mittagszeit treffen sie sich am Bahnhof Sursee, die Vier aus Basel, dazu der Berner und der Zürcher. Im Frühling 1962, also vor 62 Jahren, waren es 19 gewesen, welche am Realgymnasium in Basel von Rektor Sieber das Maturitätszeugnis empfangen hatten. Neun leben unterdessen nur noch in unseren Gedanken, vier weitere konnten diesmal nicht dabei sein. So blieben noch sechs, darunter zwei namens Hans, mit denen mich schon immer gemeinsame, aber je unterschiedliche Faszinationen verbinden, die Philosophie und die Eisenbahn. 

Noch auf dem Perron zeigt mir Hans, der Jüngere, welcher unser zweitägiges Treffen organisiert hat, auf seinem Handy ein erstes Stück Vergangenheit, ein Schwarzweissfoto, das ihn auf der Seitengalerie des Gepäckdampftriebwagens der Sursee-Triengen-Bahn zeigt, aufgenommen mit jener 6x6 Kamera, welche ich zu Weihnachten 1958 von meiner Gotte erhalten hatte.

Hans S. auf dem Gepäckdampftriebwagen
Hans S. auf dem Gepäckdampftriebwagen FZm Nr. 11 der Sursee-Triengenbahn (ST) im Sommer 1959

Und schon sind sie zurück, die Erinnerungen an jenen Ausflug mit Hans damals im Jahre 1959. Wir waren gerade einmal 16 Jahre alt, als wir an einem Samstag per Velo von Basel nach Luzern fuhren, in der dortigen Jugendherberge übernachteten, vor dem Schlafengehen die Idee hatten, das Rauchen auszuprobieren, an einem Kiosk ein Päckchen Kent-Zigaretten erstanden und am nahen Rotsee paffend unsere ersten Erfahrungen machten. (Zwischenbemerkung: Hans und Dieter sind beide seit Jahrzehnten Nichtraucher!) Am Sonntag besuchten wir dann das neu eröffnete Verkehrshaus. 

Zug der ST
Zug der ST beim ehemaligen Bahnhof Sursee Stadt (1959)

Anhand der Reihenfolge der Negative in meinem Filmarchiv lässt sich rekonstruieren, dass wir auf der Heimfahrt dem Sempachersee entlang beim Bahnübergang in Sursee-Stadt zufällig einen Zug aus Triengen mit dem unter Eisenbahnfans berühmten Dampftriebwagten FZm 1/2 Nr. 11 angetroffen haben müssen und deshalb zurück zum Bahnhof Sursee gefahren waren. Dort habe ich offenbar die Hälfte eines kostbaren Films von 12 Bildern verschossen, darunter jenes Bild mit Hans. Da es unterdessen spät geworden war, hätten wir dann, so erinnert sich Hans, in Olten den Zug nach Basel genommen und uns so die Fahrt mit unseren schweren, muskelangetriebenen Dreigangfahrrädern über den Unteren Hauenstein erspart.

Nun stehen wir sechs also neben dem kurzen Stumpengleis, auf dem einst die Züge der unterdessen nur noch als Museumsbahn betriebenen Bahn von Triengen nach Sursee endeten, und staunen über das Phänomen Zeit. Würde man im Jahre 1962 die seither verflossene Zeit von 62 Jahren rückwärts statt vorwärts zählen, sagt Hans, kämen wir ins Jahr 1900! Was muss das für eine Zeit gewesen sein, als unsere Grosseltern noch Kinder oder Jugendliche und unsere Eltern noch nicht geboren waren, als eben erst die Elektrizität und das Auto Einzug ins Leben genommen hatten und der Menschheit noch zwei Weltkriege bevorstanden..

Altstadt von Sursee
Altstadt von Sursee

In der schmucken Altstadt von Sursee gibt’s einen kleinen Mittagsimbiss. Die einen trinken ein erstes Glas Wein, die andern haben den Alkohol in ihrem Leben bereits hinter sich gelassen, doch etwas beschäftigt uns alle, die Gesundheit. Schon früher hatten wir vereinbart, das Thema zwar nicht zu tabuisieren und ihm zu Beginn unserer Treffen Zeit einzuräumen, danach aber über andere Themen zu reden. So hielten wir es auch diesmal. Nach dem Imbiss war das Thema abgehakt und unsere Sinne neugierig auf Neues.

Zum Beispiel ein kurzer Bummel durch Sursee. Das Rathaus, ein stolzer spätgotischer Bau, der nach einer siebenjährigen Bauzeit im Jahre 1546 fertig gestellt worden war, steht mitten in der Altstadt. An dessen Südseite prangt eine grosse Sonnenuhr. Auf eine andere Art des Prangens macht mich eine Frau aufmerksam, welche den Fotografierenden offenbar sofort als Tourist identifiziert. An der südöstlichen Ecke des Rathauses gäbe es noch immer einen Pranger zu sehen – inklusive Halseisen, welches die bestrafte Person zum Aufrechtstehen zwang, wo sich Missetäter und Missetäterinnen ihre Schande anhören mussten und gleichzeitig den Rechtschaffenen zur Warnung dienten. 

Pranger in Sursee
Pranger am Rathaus in Sursee

Auf der Steinbank neben dem Pranger sitzen – eine Bronzeplastik des Schweizer Bildhauers Rolf Brem – eine Mutter mit Kind. Wartet sie aus Solidarität oder Verzweiflung, weil ihr Mann am Pranger steht?

Plastik von Rolf Brem
«Mutter und Kind», Bronze Plastik von Rolf Brem beim Rathaus von Sursee

Als wir um die Stadtkirche St. Georg herumgehen – zur gleichen Zeit wie das Rathaus erbaut – und unter einem Torbogen hindurch auf den Oberen Graben treten, erweckt ein ganz besonderes Verkehrsschild meine Aufmerksamkeit: «Achtung Treppe am Ende der Sackgasse». Ob dies wohl als tröstende Botschaft an die Mutter und ihr Kind neben dem Pranger gemeint ist, dass nämlich hinter der vermeintlichen Sackgasse eine Treppe direkt in den Himmel führe? Das wäre ja möglich, schliesslich sind in Sursee viele berühmte Theologen geboren worden, darunter auch der kritische Denker Hans Küng. Allerdings vermute ich, dass besagte Treppe nicht aufwärts, sondern abwärts führt.

Sackgasse

Es nachzuprüfen, bleibt mir keine Zeit, denn nun fährt unser Bus nach Eich. Dort beziehen wir unsere Zimmer im Seehotel. Wenig später brechen vier von uns zu einem Spaziergang Richtung Sempach durch die Hügel ob dem See auf. Nördlich des Dorfes überqueren wir die A2, welche hier in einen Tunnel verlegt worden ist. Doch der akustische Frieden dauert nur bis zur Querung des Wilibachs; dort schiessen die Sonnenhungrigen aus halb Europa aus dem Eich-Tunnel und fiebern dem Stau am Gotthard entgegen. Zum Glück verfügt unser Gehirn über die Fähigkeit, störende Geräusche auszublenden – zumindest wenn uns andere Dinge beschäftigen, zum Beispiel das vor Jahrzehnten begonnene Gespräch mit Hans dem Älteren, Pfarrerssohn, über Philosophie und Religion. Da die Gegend hier leider kaum über attraktive, nicht asphaltierte Wanderwege verfügt, dafür aber über zahlreiche Kapellen und Kirchen, stehe ich mit Hans schon bald in der von aussen eher düster und abweisend wirkenden Kirche St. Martin auf Kirchbühl und staune einmal mehr, welche Ausstrahlung die Zeugnisse des Christentums bis heute haben und wie sehr unsere Geschichte davon geprägt ist.

Die Kirche in Chilchbüel, wie der kleine Weiler oberhalb des Sees eigentlich heisst, war bis 1832 Pfarrkirche von Sempach. Sie erscheint 1234 erstmals in einer Urkunde, dürfte aber um einiges älter sein. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde der romanische Bau im spätgotischen Stil umgebaut und der Chor mit Fresken ausgemalt. Beim Umbau gingen die Fresken aus dem 13. Jahrhundert bis auf wenige Resten verloren. Schon 1275 hatte St. Martin in Sempach durch die Stadtkirche St. Stefan Konkurrenz erhalten. Ab dem 17. Jahrhundert wurden die Messen immer seltener auf dem Chilchbüel gelesen; die Kirchgänger ersparten sich nur allzu gerne den halbstündigen Weg hinauf in die Hügel.

Kirche St. Martin
Kirche St. Martin beim Weiler Chilchbüel (Kirchbühl) oberhalb von Sempach

Unterdessen sind wir auf der viel befahrenen Beromünsterstrasse ins Städtchen Sempach hinunter gewandert, das heute vor allem mit zwei Namen verknüpft wird, Winkelried und die Vogelwarte. Arnold Winkelrieds Name dient heute einem vielfältigen kommerziellen Nutzen, wobei sich sich niemand daran stört, dass er seine heldenhafte Tat am 9. Juli 1386, als er den Eidgenossen im Kampf gegen die Habsburger eine Gasse in die Front der Speere bahnte, weltweit mit zahlreichen ähnlichen Legenden teilt. Schiller hat es uns vorgelebt: Legenden sollen verbinden, sie müssen nicht wahr sein. Wahr ist es hingegen, dass es die Vogelwarte bis heute gibt und sie für den Naturschutz eine eigene Winkelried’sche Rolle erfüllt.

Durch ein kleines Gässchen gehen wir zum Seeufer. Der Seespiegel steht hoch; nur noch wenig fehlt, bis die beiden Männer im kleinen Kiosk nasse Füsse bekommen. Während wir auf einer Bank unsere Getränke geniessen, berichte ich meinen Freunden über die Zeit vor vierzig Jahren, als ich an der Eawag in Dübendorf mit einem einfach gestrickten mathematischen Modell mitverantwortlich gewesen bin für das Konzept zur Sanierung der damals heillos überdüngten kleinen Mittellandseen. Auf der Basis unserer Berechnungen wurden dann im Sempacher-, Hallwiler und Baldeggersee Anlagen zur künstlichen Belüftung im Sommer und Zirkulationsunterstützung im Winter installiert. Der Zustand aller drei Seen hat sich unterdessen, wenn auch nur langsam, verbessert, doch der Sempachersee wird bis heute belüftet.  

Beim Nachtessen im Seehotel in Eich kreisen dann unsere Gedanken doch wieder um die verflossene Zeit, um Gesundheit und Zerfall, um Leben und Tod. Ich denke an das einzigartige Verkehrsschild, das ich in Sursee entdeckt habe: Ja, das Leben ist eine Sackgasse. Wir können den Zerfall zwar verzögern, sei es mit Medikamenten oder – wie im Falle des Sees – mit künstlicher Belüftung, aber aufhalten können wir ihn nicht. Vielleicht gibt es am Ende tatsächlich eine Treppe, aber niemand weiss es so genau – und manche wollen es auch gar nicht wissen.

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