
In der endlosen Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts – bis in unsere Gegenwart – denkt heute jeder, der sich mit der Region befasst, er sei über Ursachen und Folgen gut informiert. Holocaust, Nakba, die beiden Katastrophen, die am Anfang des Nahostkonflikts stehen. Doch die Geschichte reicht weiter zurück, wie der israelisch-amerikanische Journalist Oren Kessler zeigt.
Die beiden Parteien stehen heute dort, wo sie immer schon standen: dem Anspruch auf ein nationales Heim, doch auf demselben Territorium. Die Ausweglosigkeit, die wir heute deutlicher sehen denn je, hat sich schon vor hundert Jahren gezeigt. Es hätte auf beiden Seiten, der palästinensischen wie der zionistischen, gewaltiger Anstrengungen bedurft, diese Hindernisse zu überwinden
Eine «Ursünde» des britischen Imperiums
Oren Kessler (Jahrgang 1982) hat sich in einem Buch mit einem besonders aussagekräftigen Abschnitt dieser früheren Geschichte befasst: dem ersten grossen, bewaffneten Konflikt, der von 1936 bis 1939 dauerte und der völlig in Vergessenheit geraten ist. Kessler nennt ihn den Grossen Aufstand und sieht darin die Wurzel des Nahostkonflikts. Fundiert und anschaulich begründet er seine These und lässt einen resigniert zurück. Man nennt ihn zuweilen auch die erste Intifada, ein halbes Jahrhundert vor jener, die 1987 ausbrach. Damals noch unter Beteiligung der bewaffneten britischen Mandatsmacht, die erkennen musste, dass die widerstrebenden Kräfte nicht mehr in Einklang zu bringen waren.
Kessler geht auf grossen Spuren – das muss man zuvor sagen. Das grundlegende Werk zu dieser Zeit hat Tom Segev 2005 (deutsche Ausgabe) vorgelegt mit «Es war einmal ein Palästina». Wie Segev folgt Kessler in seiner Darstellung einzelnen Figuren, um deren Zeugnisse wie Briefe und andere Dokumente herum er dann das grosse Bild gruppiert. Es gelingt ihm nicht ganz so glanzvoll wie Segev, auch stilistisch nicht. Aber es ist im Ganzen eine überzeugende Darstellung der historischen Vorgänge.
Damals, 1936, stand Palästina seit 14 Jahren unter britischem Mandat. Und der Kampf war zunächst einer, der sich von arabischer Seite gegen die Mandatsmacht richtete, in den dann auch die neuen jüdischen Siedler verwickelt wurden. Am Beginn stand die Ursünde des britischen Empire im und nach dem ersten Weltkrieg. Beiden Seiten, der arabischen wie der zionistischen, hatte man nationale Unabhängigkeit bzw. eine nationale Heimstatt versprochen, der arabischen als Gegenleistung für deren Waffenhilfe gegen das Ottomanische Reich im ersten Weltkrieg und der zionistischen mit der Balfourdeklaration von 1917, auf deren Unterstützung man im Weltkrieg ebenfalls hoffte (auch damals schon den Einfluss «der Juden» in der Welt grotesk überschätzend).
Verkannte nationale Ambitionen der Araber
Nun, in den dreissiger Jahren, war Hitler an der Macht, und sein erstes Ziel war die Vertreibung der deutschen und dann der österreichischen Juden. So wuchs der Einwanderungsdruck auf Palästina, zumal die restliche Welt es den bedrohten Juden schwer bis unmöglich machte (Konferenz von Evian 1938), in andere Länder zu fliehen. Die Juden Palästinas, der Jischuv, unter Führung von David Ben Gurion, setzte alle Hebel in Bewegung, so viele Juden wie möglich nach Palästina zu bringen, nicht nur, um sie vor den Nazis zu retten, sondern um den künftigen jüdischen Staat zu bevölkern. Der allerdings auch in ihrem Bewusstsein noch in sehr weiter Ferne lag. Die Zionisten kauften Land von arabischen Grundbesitzern, die oft ausserhalb Palästinas lebten. Sie bebauten das Land mit eigenen Händen, wollten keine arabischen Lohnarbeiter – dachten und propagierten aber gleichzeitig, die arabischen Bewohner würden dankbar Fortschritt und Moderne erkennen, die die jüdischen Siedler dem Land brachten.
Damit verkannten oder ignorierten sie, dass auch in der arabischen Bevölkerung nationale Ambitionen im Vordergrund standen und nicht die Bereitschaft, sich mit der jüdischen Zuwanderung abzufinden oder sie gar als grossen Gewinn zu betrachten, der sie selber voranbringen würde.
Kämpfe im britisch-jüdisch-arabischen Dreieck
Der Aufstand selber – nach zwei kleineren ersten Zusammenstössen 1921 und 1929 – wuchs sich zu einem blutigen Gewaltakt aus, ausgefochten im Dreieck von Arabern, Juden und Briten, in wechselnden Konstellationen und momentanen Bündnissen. Der äusserliche Anlass war die Ermordung zweier Juden in der Nähe von Nablus. Die Gewalttätigkeiten verbreiteten sich rasant, ein neu gegründetes Arabisches Nationalkomitee rief den Generalstreik aus. An seine Spitze setzte sich Mohammed Amin al Husseini, Abkömmling einer der vornehmen Jerusalemer Familien und bis heute berühmt und berüchtigt als der Mufti von Jerusalem, der sich Hitler als glühender Unterstützer andiente.
Auch auf den Namen Izz el Din al Kassem stossen wir bereits damals, nach dem sich bis heute der «militärische Arm» der Hamas benennt. Er machte sich zum Anführer der arabischen Landbevölkerung. Die griff zum Gewehr in kleinen Gruppen, verübte blutige Überfälle auf jüdische Siedler und auf Vertreter der britischen Mandatsmacht. Die jüdische Seite begann, eigene Milizen aufzubauen, wie die 1920 gegründete Haganah, aus der 1948 die israelische Armee wurde. Aber auch kleine, radikal-nationalistische Terrorgruppen wie die Irgun entstanden, die gegen Araber und immer stärker auch gegen die Briten Anschläge verübten.
Britische Perspektive: eine Zweistaatenlösung
Die Mandatsmacht, so viel wurde immer klarer, wurde aufgerieben zwischen den unterschiedlichen Forderungen und Ansprüchen von Jischuv und Arabern und ihrem eigenen Machtanspruch. Hier die immer drängendere jüdische Einwanderung, dort die arabische Abwehr dagegen. Die britische Regierung setzte schliesslich eine Kommission ein, die Lösungen vorschlagen sollte. Diese Peel-Kommission kam 1937 zum Schluss, das Land zu teilen. Wenn man so will, die erstmals formulierte Zweistaatenlösung.
Die Kämpfe endeten nach drei Jahren. Die höchsten Opferzahlen wies die arabische Seite auf. In diesen Jahren eignete sich die jüdische Seite immer bessere militärische Kenntnisse an, teils auch mit britischer Hilfe. Weiter vorausschauend war es dann beim Unabhängigkeitskrieg 1948/49 nicht so, dass hier eine hoffnungslos unterlegene jüdische Seite einer Übermacht von mehreren arabischen Staaten gegenüberstand. Das war nur der äussere Anschein. Auch das macht das Buch deutlich. Verzweifelte Zionisten, konfrontiert mit der Verfolgung ihres Volkes in Europa und die nur gewinnen konnten mit jedem neuen Einwanderer, mit jedem neuen Stück Land, das sie erwarben und bebauten und dabei immer mehr staatsähnliche Strukturen aufbauten. Während die arabische Seite, die in jenen Jahren ein spezifisch palästinensisches Bewusstsein entwickelte, nur verlieren konnte, wenn sie Land aufgab.
Kompromisslose in der Überzahl – auf beiden Seiten
Kessler gelingt es, die völlig ausweglose Situation zu schildern, die sich damals schon deutlich abzeichnete und die schliesslich 1947 zum Uno-Teilungsbeschluss führte. Nach dem Holocaust war es unmöglich geworden, einen jüdischen Staat verhindern zu wollen. Deshalb auch haben die Zionisten später dem Teilungsplan der Uno zugestimmt und die arabischen Staaten ihn abgelehnt. Er bereitete den Weg zu einem Staat, während sich die arabische Seite nicht mit einem «Teil-Staat» abfinden wollte und sich dem Irrtum hingab, das Blatt militärisch wenden zu können.
Es gab auf beiden Seiten aber immer auch Kräfte, die versuchten, zu einer Übereinkunft zu kommen. Auch das zeigt Kesslers Darstellung. Aber sie waren schon damals gegenüber den Kompromisslosen in der Unterzahl, und sie sind es in den hundert Jahren seither geblieben. So ist es das Verdienst dieses Buches, die gewalttätige Frühgeschichte dessen, was wir heute erleben, begreifbar zu machen. Und die Einsicht zu vermitteln, dass eine friedliche Zukunft praktisch undenkbar erscheint.
Oren Kessler: Palästina 1936. Der Grosse Aufstand und die Wurzeln des Nahostkonflikts. Hanser 2025, 389 S., Fr. 39. 90