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Lettland

«Putin an den Galgen»

18. Juli 2025 , Riga
Heiner Hug
Putin
(Foto: Journal 21/hh)

Wenn der russische Botschafter in der lettischen Hauptstadt Riga durch das Fenster der Botschaft schaut, sieht er dieses Bild. Das riesige Porträt, drei auf vier Meter gross, prangt an der Fassade des medizinischen Museums, direkt gegenüber der Botschaft. Tausende Einheimische und Touristen fotografieren es.

Die Botschaft an der Antonijas-Strasse ist zu einem Touristenmagnet geworden.  

Antonijas iela
Russische Botschaft
Russische Botschaft in Riga (Foto: Journal 21/hh)
Russische Botschaft
Russische Botschaft (Journal 21/hh)

Doch die Strasse wurde auf Beschluss der Stadtregierung umbenannt. Das Schild Antonijas-Strasse  (Antonijas iela) wurde abmontiert. Die Strasse heisst jetzt «Strasse der ukrainischen Unabhängigkeit». Das neue Schild wurde direkt an der Hausmauer der Botschaft angebracht. Ob der Botschafter dagegen bei der lettischen Regierung protestiert hat, ist nicht bekannt. 

Strasse der ukrainischen Unabhängigkeit
Strasse der ukrainischen Unabhängigkeit (Foto: Journal 21/hh)

Briefe oder Pakete müssen die Adresse «Strasse der ukrainischen Unabhängigkeit» tragen. Wenn nicht, werden sie nicht zugestellt.

Es ist Mittwochabend, wieder versammeln sich vor der Botschaft Dutzende Schaulustige. Ein Lette, etwa vierzig Jahre alt, gut angezogen, Stil: Uni-Professor, fragt, woher wir kommen. «Ah, Sie sprechen Deutsch», sagt er. Und plötzlich beginnt er – völlig entfesselt – zu schreien: «Putin Schwein, Putin Schwein». Er wird immer lauter, rennt über die Strasse und stellt sich vor die Eingangstür der Botschaft: «Putin Schwein, Putin Schwein». Daneben steht eine junge bewaffnete lettische Polizistin mit Funkgerät und Schussweste. Sie sagt kein Wort und lässt sich auf keine Diskussion ein. Ich grüsse sie, sie reagiert nicht. Ihre Aufgabe ist es wohl, Verstärkung anzufordern, wenn vor der Botschaft Schlimmeres geschieht.

Wenn der russische Botschafter aus dem Bürofenster schaut, sieht er nicht nur Putins Porträt an der Wand des medizinischen Museums. Weiter hinten ist ein Plakat von Alexej Nawalny angebracht, und ein paar Schritte davon entfernt steht ein Galgen mit der Aufschrift «Put in hell». Mehr noch: Eine WC-Schüssel wurde aufgestellt: «Spült ihn runter». 

Galgen
(Foto: Journal 21/hh)
WC
(Foto: Journal 21/hh)
Schrift
Auch das kann der russische Botschafter von seinem Bürofenster aus lesen: «Seit 107 Jahren vernichten uns die roten Kreml-Henker – Sadisten und Mörder.»

All das auf öffentlichem Grund. Man stelle sich vor: Vor der russischen Botschaft in Bern würde auf öffentlichem Grund ein Galgen aufgestellt … In jedem Land würden solche Utensilien wohl schnell entfernt. Nicht so im baltischen Staat Lettland, der seine Solidarität mit der überfallenen Ukraine buchstäblich an jeder Ecke demonstriert. 

Fahnenmeer
Fahnenmeer (Journal 21/hh)

Die Stadt ist in ein blau-gelbes Fahnenmeer getaucht. Es gibt kein öffentliches Gebäude, kein Museum, kein Ministerium, kein Hotel, das nicht die ukrainische Flagge trägt. In Lettland würden 100’000 blau-gelbe Fahnen wehen, glaubt ein Einheimischer zu wissen. Oft hängt neben der ukrainischen Flagge jene der EU.

Schlummernde Angst

Spricht man mit westlich eingestellten Lettinnen und Letten, wird schnell deutlich, dass in ihnen ein tiefes Unbehagen schlummert. Viele zeigen offen ihre Angst und Beklemmung. Lettland gehörte – zusammen mit den zwei anderen baltischen Staaten Estland und Litauen – bis 1991 zur Sowjetunion. Wird Putin nach einem Sieg in der Ukraine Halt machen oder auch die drei baltischen Staaten ins russische Reich «zurückholen»? Viele sagen: «Wir verdrängen dieses Szenario, wir geniessen jetzt unsere Freiheit, so lange wie möglich.»

Lettland, der mittlere baltische Staat ist etwa anderthalb mal so gross wie die Schweiz und zählt knapp zwei Millionen Einwohner. Fast jeder Vierte (24 Prozent) gehört zur russischen Minderheit. Stalin hatte in den Dreissiger- und Vierzigerjahren Hunderttausende Russen in Lettland angesiedelt. Die russische Sprache und Religion dominierten damals in Lettland. 

Russisch-orthodoxe Kirche
Die russisch-orthodoxe Kirche in Riga (Foto: Journal 21/hh)

Aufmarsch gegen Putin

Die Angst vor Putin führt auch zu einem Zusammenrücken der lettischen Bevölkerung – und zu einem ausgeprägten, wachsenden Nationalismus. Der äusserte sich zum Beispiel am vergangenen Wochenende während des lettischen «Lieder- und Tanzfestes», das nur alle fünf Jahre stattfindet. Aus dem ganzen Land strömten farbenfrohe, herausgeputzte Trachtengruppen nach Riga. Die Frauen und Mädchen hatten Kränze in den Haaren, man schenkte sich Blumen. Man lachte, man fiel sich in die Arme. Exil-Letten waren dabei, auch solche aus der Schweiz. Die ganze Stadt war ein Trachtenmeer. Hunderttausende waren auf der Strasse. 

Die Balten sind seit jeher bekannt für frohe Feste, für ihre Musik und ihre Trachten. Doch diesmal war es mehr als ein Fest. Der riesige Aufmarsch in den Strassen von Riga war ein klares Bekenntnis gegen den Kreml, gegen Putin, für die Ukraine, für die baltische Unabhängigkeit. «Feiern wir, solange wir noch können», sagte ein Teilnehmer mit bedrücktem Unterton. In Strassen und auf Plätzen wurden lange Tische aufgestellt, an denen sich die Feiernden verpflegten.

Riga
Zehntausende in den Strassen von Riga (Keystone/EPA/Toms Kalnins)
Abschlusszeremonie
Abschlusszeremonie des Sing- und Tanzfestes in Riga (Keystone/EPA/Toms Kalnins)
Abschlusszeremonie
Riga, Abschlusszeremonie des Sing- und Tanzfestivals (Keystone/EPA/Toms Kalnins)

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Lettisch offizielle Amtssprache. Seit der Unabhängigkeit Lettlands hat der Kreml den in Lettland lebenden Russen die russische Staatsbürgerschaft angeboten. Viele haben akzeptiert, da sie jetzt eine russische Rente beantragen konnten. 

Lettland bürgert nur Russisch-Stämmige ein, wenn sie die lettische Sprache mehr oder weniger beherrschen und ein klares Bekenntnis zu den freiheitlichen, westlichen Grundwerten Lettlands abgeben. Die Regierung tut alles, um das Russische zurückzudrängen. Diese Woche hat das staatliche lettische Radio und Fernsehen bekanntgegeben, dass ihre Sendungen analog (also über Antennen) nur noch auf Lettisch übertragen werden. Die Sendungen auf Russisch (und Englisch) können nur noch via Internet gesehen und gehört werden. Für viele ältere, russisch sprechende Bürgerinnen und Bürger bedeutet dies, dass sie kein russischsprachiges lettisches Fernsehen und Radio mehr konsumieren können. Die EU hat Lettland mehrmals wegen der Diskriminierung der russischen Letten kritisiert.

«Modell Donbass»?

Den Hass auf Russland gibt es in Baltikum nicht erst seit Putin. Lettland war bis zum Zweiten Weltkrieg (unter einer Diktatur) unabhängig. Dann fielen die Nazis ein und nach dem Krieg die Sowjets. Viele Letten, Esten und Litauer waren unter Stalin nach Russland deportiert worden; ein grosser Teil von ihnen ist dort umgekommen. Viele Familien wurden zerrissen. 

Die meisten Russen in Lettland leben entweder in der Hauptstadt Riga oder im tiefen Osten des Landes. Spricht man mit Letten über die russische Gefahr, so wird deutlich: Die Wenigsten rechnen mit einer schnellen russischen Invasion so wie in der Ukraine. Aber man schliesst nicht aus, dass im Osten des Landes bald einmal Sabotageakte verübt werden könnten: Grenzverletzungen, Attentate. Ein Lette spricht von einem möglichen «ukrainischen Donbass-Modell».

Artikel 5 des Nato-Vertrags

Die Angst ist da, dass sich dann unter den Russischstämmigen eine Guerilla bildet, eine pro-russische «Regierung», mit Waffen unterstützt vom Kreml, wie damals in Luhansk und Donezk. So beginnen heute Konflikte. Dass auch der nördliche Nachbar Estland mit seiner weit nach Russland hineinreichenden Stadt Narwa gefährdet ist, wird hier immer wieder erwähnt. Doch von Narwa nach Lettland ist es nicht weit. 

Die drei baltischen Staaten gehören der EU und der Nato an. Bei einem russischen Angriff auf Lettland, Estland oder Litauen müssten alle Nato-Staaten (inklusive der USA) Russland den Krieg erklären. So sieht es Artikel 5 der Nato-Doktrin vor. Das wäre dann der Dritte Weltkrieg. Doch ein Lette, der vor der russischen Botschaft in Riga fotografiert, ist pessimistisch: «Wir sind so klein, wegen den baltischen Zwergstaaten würden die USA wohl keinen Dritten Weltkrieg riskieren.» Es sei durchaus möglich, dass Putin die Nato im Baltikum teste. 

Ein anderer ist weniger pessimistisch und macht sich Mut: «Putin ist alt», sagt er. «Hoffentlich stirbt er, bevor er auf die Idee kommt, uns anzugreifen.»

Russische Botschaft
Die russische Botschaft bei Tag (Foto: Journal 21/hh)

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