Dies ist die Geschichte einer Brücke, die vielleicht nie existiert. Und sollte sie einmal existieren, würde sie vielleicht nicht lange existieren.
Es geht um die Brücke über die Meerenge von Messina. Sie soll das italienische Festland mit Sizilien verbinden. Doch vor allem geht es um das Ego des Matteo Salvini, des aus den Schlagzeilen gedrängten zweiten Mannes in der Regierung von Giorgia Meloni.
Salvini, Chef der rechtspopulistischen Partei «Lega» erzielte bei den Europawahlen vor fünf Jahren über 34 Prozent der Stimmen. Jetzt wollen laut Umfragen nur etwa 8 Prozent für die Lega stimmen. Ministerpräsidentin Meloni ist es gelungen, ihren stets lauten und trotzigen Salvini an die Wand zu drängen. Sie bescherte ihm das Infrastrukturministerium, mit dem man sich in Italien keine Lorbeeren holen kann. Eigentlich wollte er das wichtige Innenministerium, doch das will Meloni nicht.
Salvini funktioniert nach dem Prinzip aller Rechtspopulisten: provozieren, reizen, beleidigen, attackieren. So bleibt man in den Schlagzeilen, so wird man nicht vergessen. Dazu gehören auch immer wieder klar rassistische Einlagen. Und natürlich kokettiert er mit den übrigen europäischen Rechtsradikalen und gibt sich als Putin-Versteher.
Meloni braucht Salvini
Salvini weiss: Meloni muss seine Brüskierungen herunterschlucken, denn sie braucht ihn. Ohne seine Lega würde ihre Regierung im Parlament nicht über die nötige Mehrheit verfügen.
Jetzt will sich Salvini endgültig ein Denkmal setzen, und zwar mit einem «pharaonischen Projekt», wie er sagt. Ein Projekt allerdings, das nicht nur eitel Freude provoziert. Salvinis Gegner sprechen von einem «pharaonischen Unsinn».
Seit anderthalb Jahrhunderten denkt man in Italien darüber nach, wie man das italienische Festland mit Sizilien verbinden könnte. Auch Silvio Berlusconi wollte sich ein Denkmal setzen, auch er liess ein Projekt ausarbeiten. Als er sich der Schwierigkeiten bewusst wurde, liess er die Finger davon.
Drei Projekte wurden seither immer wieder diskutiert: 1. Eine über drei Kilometer lange Hängebrücke, 2. Eine schwimmende Tunnelröhre und 3. Eine Brücke mit vier Pfeilern (zwei davon sollen mitten ins Meer zwischen dem Festland und Sizilien gerammt werden). Der schwimmende Tunnel und die Vierpfeiler-Brücke erwiesen sich als unrealisierbar. Das Meer hat in der Strasse von Messina eine Tiefe von bis zu über 500 Metern.
Schwerste Naturkatastrophe im 20. Jahrhundert
Gebremst wurde die Begeisterung der Brücken-Enthusiasten immer wieder durch viele Geologen. Sie weisen darauf hin, dass das Gebiet, in dem die Brücke gebaut werden soll, höchst erdbebengefährdet ist. Am 28. Dezember 1908 ereignete sich hier eine der schwersten Naturkatastrophen im 20. Jahrhundert. Das 40-sekündige Beben, das sich morgens um 05.20 Uhr ereignete, hatte eine Stärke von 7,2 auf der Momenten-Magnituden-Skala und zerstörte die Städte Messina, Reggio Calabria und Palmi fast vollständig. Dem Erdstoss folgte ein Tsunami. Die Zahl der Toten schwankt je nach Quelle zwischen 70’000 und 110’000.
Zwar stossen hier tektonische Platten aneinander, doch Salvini und die Seinen sind überzeugt, das Problem in den Griff zu kriegen. Und das Lobbying der Brücken-Befürworter hat Erfolg – vorläufig. Der zuständige Verwaltungsrat des «Interministeriellen Ausschusses für Wirtschaftsplanung und nachhaltige Entwicklung» (CIPESS) hat kürzlich grünes Licht für den Bau des Projekts gegeben.
Doch noch ist die Brücke längst nicht gebaut.
Je zwei 399 Meter hohe und 55’000 Tonnen schwere Metalltürme sollen am Ufer in Kalabrien und an jenem in Sizilien gebaut werden. Das Fundament der Pfeiler soll aus Stahlbeton gegossen werden. In Sizilien soll es einen Durchmesser von 55 Metern und in Kalabrien einen solchen von 48 Metern haben. Die beiden achteckigen Türme sollen einen Querschnitt von 20 mal 12 Metern aufweisen.
Zwischen den beiden Türmen sollen vier Seile gespannt werden. Sie haben laut Projekt einen Durchmesser von 1,26 Metern und ein Gewicht von 170’000 Tonnen.
An diesen Seilen soll der 3,6 Kilometer lange «Ponte del Stretto di Messina» (wie die Brücke offiziell heisst) aufgehängt werden. Es wäre die Brücke mit der grössten Einzelspannweite der Welt.
Nicht alle würden über diese Brücke fahren
Salvinis Brücke wäre 60 Meter breit und soll pro Fahrtrichtung drei Spuren und je zwei Pannenstreifen aufweisen. Zudem sollen zwei Eisenbahngeleise gebaut werden. Pro Tag sollen 200 Züge und pro Stunde 6’000 Fahrzeuge verkehren können. Auch Hochgeschwindigkeitszüge, die es bisher in Sizilien nicht gab, sollen über die Brücke rasen.
Die Planer weisen darauf hin, dass das Bauwerk einem Erdbeben der Stärke 7,1 standhalten würde. Nicht alle Geologen sehen das so optimistisch. Umfragen zeigen, dass viele Italienerinnen und Italiener es nicht wagen würden, über diese Brücke zu fahren. Einer sagte, das Thema Geologie wird etwas gar schnell vom Tisch gewischt.
Bis 30 Milliarden teuer?
Die gut drei Kilometer breite Strasse von Messina ist bekannt für heftige Stürme. Kein Problem, sagt Salvini. Die Brücke soll so konstruiert werden, dass sie Windgeschwindigkeiten von bis zu 216 Kilometern pro Stunde standhält. Die höchste Windgeschwindigkeit, die in den letzten zwanzig Jahren hier gemessen wurde, war 140 km/h.
Das ganze Projekt soll 13,5 Milliarden Euro kosten. Mit dem Bau soll demnächst begonnen werden. Die Bauzeit wird auf acht Jahre veranschlagt. Die Kosten sollen «vollständig» durch öffentliche Gelder gedeckt werden und sind bereits in den kommenden Haushaltsplänen provisorisch vorgesehen. Doch rechnet man alle Infrastruktur- und Anschlussbauten dazu, so fürchten einige, könnte das Projekt schliesslich bis zu 30 Milliarden Euro kosten.
«Entwicklungsbeschleuniger»
Meloni ist auf den Zug aufgesprungen und befürwortet den Bau. Salvini konnte auch der EU das Projekt schmackhaft machen. Damit könne der Handel zwischen Palermo, Catania und Helsinki und Stockholm hindernisfrei abgewickelt werden, sagt er. Bisher ist Kalabrien und Sizilien durch einen Fährbetrieb verbunden. Jährlich werden die Fähren von 4,2 Millionen Passagieren benutzt. Oft, vor allem im Sommer, dauern Wartezeiten an den Terminals bis zu drei Stunden. Die Überfahrt dauert 40 Minuten.
Die Befürworter der Brücke erwähnen, dass das Bauwerk einen positiven Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung der unterentwickelten Regionen Kalabrien und Sizilien haben. Salvini sagte, die Brücke sei ein «Entwicklungsbeschleuniger» und würde 120’000 Arbeitsplätze schaffen. Es sei «das grösste öffentliche Bauvorhaben, das derzeit im Westen geplant ist».
Doch natürlich betrachten nicht alle das Projekt mit Enthusiasmus.
Eine im Jahr 2021 veröffentlichte wissenschaftliche Studie hat ergeben, dass die tektonischen Verwerfungen in diesem Gebiet ein Erdbeben der Stärke 6,9 auslösen könnten – also Energie, die dem Erdbeben von 1908 sehr nahe kommt. Veröffentlicht wurde die Studie in der renommierten internationalen Fachzeitschrift «Earth-Science Reviews». Beteiligt waren die Universitäten Catania und Kiel sowie das Ätna-Observatorium des Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie.
Marode Infrastruktur
Vor allem die Opposition wehrt sich gegen den Bau und kritisiert die «astronomischen Kosten». Italien ist in vielen Bereichen noch immer ein krankes, unterentwickeltes Land mit einer maroden Infrastruktur. Wer mit Banken oder der Post zu tun hat, reisst sich oft alle Haare aus. Viele Brücken sind in einem erbärmlichen Zustand; Kanalisationen und Wasserleitungen schreien nach Unterhalt. In den Spitälern, vor allem im Süden, herrschen teils katastrophale Bedingungen. Wegen mangelnden Beistands sterben Leute in den Gängen.
Die Eisenbahn konzentriert sich auf Prestigelinien. In der Provinz sind verlotterte, verschmutzte Wagen und stundenlange Verspätungen nicht selten. Bei der staatlichen Telefongesellschaft geschah in den letzten dreissig Jahren gar nichts. In abgelegenen Gebieten gibt es keinen Internetzugang. Die Bürokratie müsste endlich radikal ausgemistet werden. Die lächerlichen Regulierungen behindern jede Entwicklung – sollte man das viele Geld, das die Brücke kostet, nicht eher anders einsetzen?
«Die grösste Verschwendung»
Die sozialdemokrtatische Europa-Abgeordnete Annalisa Corrado, kritisiert, dass es sich bei dem Projekt um reine Propaganda handle, die den Italienern im Falle eines Stopps enorme Kosten und Strafen in Milliardenhöhe aufbürden könnte. Dringende Investitionen für den Nahverkehr, für die Sicherheit des Territoriums, für Schulen und das Gesundheitswesen könnten nun nicht getätigt werden.
Der linksgründe Abgeordnete Angelo Bonelli sagt, das Projekt sei «die grösste Verschwendung öffentlicher Gelder, die Italien jemals gesehen hat».
Wird die Mafia profitieren?
Die Regionen Kalabrien und Sizilien sind nach wie vor Mafia-durchseucht. Es ist anzunehmen, dass die sizilianische Cosa Nostra und die kalabresische ’Ndrangheta massiv an den Ausschreibungen und dem Bau mitverdienen würden. Brückenbefürworter argumentieren, dass man eben der Mafia mehr auf die Finger schauen sollte. Dieses Argument wird seit Jahrzehnten erwähnt – und wenig geschieht.
Dann gibt es die Umweltschützer, die die Brücke aus ökologischen und landwirtschaftlichen Gründen ablehnen. Dazu sagen Salvini und Co.: Warum reisen dann Touristen nach San Francisco und machen Millionen Selfies vor der Golden Gate Bridge? Warum soll die Brücke in der Bucht von San Francisco einzigartig sein und jene in der Strasse von Messina nur umweltschädigend?
Zwei Dämpfer
Jetzt erhält Salvini einen Dämpfer. Eine Meinungsumfrage zeigt, dass nur jeder Dritte in Italien eine solche Brücke will. Die anderen wollen das Geld anders investieren.
Und noch ein Dämpfer: Salvini schlug vor, die Kosten der Brücke als italienische Militärausgaben zu bezahlen. In einem offiziellen Dokument hatte im April die italienische Regierung die Brücke als «strategisches Militärprojekt im Hinblick auf die europäische Verteidigung und die Nato» eingestuft.
Italien gibt aktuell (Stand 2024/2025) zwischen 1,5 % und 1,6 % seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aus — also deutlich unter dem Nato-Ziel von 2%. Würde nun Italien die vielen Milliarden, die die Brücke kostet, als italienische Militärausgaben deklarieren, käme man nahe an die geforderten 2% heran. Salvini spekulierte, dass Trump dies freuen würde.
Kann Italien das bezahlen?
Doch ist die Brücke über die Meerenge von Messina ein militärisches Projekt? Matthew Whitaker, der amerikanische Botschafter bei der Nato, erklärte am Dienstag laut Angaben der Agentur Bloomberg, die USA beabsichtigten keineswegs, «buchhalterische Schönfärbereien» zu billigen, um die Erhöhung der Verteidigungsausgaben zu rechtfertigen.
Also: Die Milliarden, die die Brücke kostet, dürfen nicht dem Verteidigungsbudget zugeschlagen werden. Das heisst: Italien muss sowohl für die Brücke zahlen – und muss das Verteidigungsbudget von 1,6 % auf 2% aufstocken.
Bauleichen?
Hat das hochverschuldete Italien so viel Geld? Laut dem Frühjahrs‑Wirtschaftsforecast der Europäischen Kommission wird die Bruttoverschuldung in diesem Jahr auf 136,7 % des BIP und im kommenden Jahr auf 138,2 % des BIP steigen.
Schon zirkuliert in Rom ein Horrorszenario. Und das geht so: Bald mit dem Bau der Brücke begonnen, dann geht das Geld aus. Und dann würden an den Gestaden der Meerenge von Messina zwei gigantische Türme stehen: zwei Bauleichen – wie es so viele in Sizilien und Kalabrien gibt.