
Der Terrorangriff in Kaschmir vom letzten Dienstag kam nicht aus heiterem Himmel. Der erste Warnschuss war bereits vor zwei Wochen abgegeben worden. Überraschend erklärte General Asim Munir, Kaschmir bilde nach wie vor «Pakistans Schlagader».
Ein starkes – und riskantes Bild. Denn es suggeriert eine existenzielle Bindung des pakistanischen Staates an eine Region, die zur Hälfte in Indien liegt. Bedeutet dieses Bild, dass die Eingliederung Kaschmirs in Pakistans Staatswesen Kern und «Lebensader» der pakistanischen Politik bleiben, selbst wenn sie damit einen Krieg mit dem Angstgegner riskiert? Statt eine Lebensader wäre das (in Kauf genommene?) Resultat dann die Ausblutung des Landes?
Natürlich spielt auch politische Rhetorik in eine solche Aussage hinein. Pakistans Armee hat im mehrjährigen Kampf gegen den populären Politiker Imran Khan ihre Legitimität als Schiedsrichter im Parteienpoker immer weiter eingebüsst. Munirs Aussage könnte daher als Appell an die grosse Solidarität weiter Bevölkerungsteile mit dem kaschmirischen Volk gelesen werden, mit dem sich das Image der Generäle wieder etwas aufpolieren lässt.
Doch das kaltblütige Erschiessen ausgewählter (Hindu-)Männer aus kurzer Distanz und unter den Augen ihrer Familien stellt eine dramatische Eskalation dar. Sie unterstreicht, dass die Generäle in Rawalpindi bereit sind, ein militärisches Kräftemessen tatsächlich in Kauf zu nehmen. Es wäre quasi ein perverser Befreiungsschlag angesichts der politischen Dauerkrise des Landes und der Verwicklung der Generäle darin.
Lose/Lose statt Win/Win
Doch es wäre auch eine Kapitulation gegenüber der Ambition jedes modernen Staats, das eigene Land zu Stabilität und Wachstum – und internationalem Ansehen – zu führen. Es ist von vorneherein klar, dass die Armee einen Landkrieg mit Indien nicht gewinnen kann. Sie droht damit auch den Rest an Popularität zu verscherzen, die es noch besitzt.
Gibt es eine logische Erklärung für ein solches suizidales Verhalten?
Es gibt sie: Pakistan hat es längst aufgegeben, sich mit Indien in politischer und ökonomischer Hinsicht auf Augenhöhe messen zu können. Doch statt zu versuchen, das Nullsummenspiel von Gewinner und Unterlegenem in ein Win/Win zu verwandeln, optieren sie für ein Lose/Lose, in dem die eigene Unterlegenheit hingenommen wird, weil der Gegner ebenfalls ein Verlierer ist.
Modi erkennt die Falle
Auf den zweiten Blick allerdings entbehrt das Kalkül der Generäle nicht einer zynischen Plausibilität. Die politischen und sozialen Gräben zwischen der Hindu-Mehrheit und der sechsmal kleineren muslimischen Minderheit haben sich in den letzten zehn Jahren vertieft. Angesichts der demografischen Brisanz der Zahlen – eine Minderheit mit 200 Millionen Anhängern! – könnte eine Zuspitzung dieses Konflikts verheerende Folgen haben.
Was liegt für die pakistanischen Generäle bei einer solchen Konstellation da näher, als eine der tektonischen Bruchstellen Indiens – die Beziehung zwischen Hindus und Muslimen – zu nutzen, um die Stabilität des Nachbarn zu erschüttern und damit auch deren aussenpolitischen Architektur einen Stoss zu versetzen. Islamabad rechnet damit, dass das von der BJP sorgfältig gepflegte anti-muslimische Ressentiment in der breiten Bevölkerung zu einer Hasswelle anschwellen wird, wenn sie mit den TV-Bildern der ausgesonderten Hindu-Opfer konfrontiert werden. Dies würde die Minderheit noch stärker marginalisieren, verunsichern und, so das Kalkül, radikalisieren.
Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Regierung Modi die Falle erkennt, die ihr hier gestellt wird. Sie wird auch nicht vergessen haben, dass beim letzten grösseren Terrorangriff im Jahr 2018 eine überhastete Strafaktion der Luftwaffe mit der angeblichen Zerstörung von Terror Camps mit dem peinlichen Verlust eines Kampfjets und dem Friendly Fire eines Helikopters auf eigene Soldaten geendet hatte.
Wirtschaftlicher Druck
Zudem ist das internationale Profil Indiens in den letzten Jahren stark gewachsen. Trotz der politischen Verhärtung des Staats und der entsprechenden Schwächung seiner Demokratie wird das Land heute international respektiert, nicht zuletzt aufgrund des wirtschaftlichen Gewichts einer kommenden Wirtschaftsgrossmacht
Indiens Aussenpolitiker wissen, dass ein Kriegsausbruch für Delhi mit höheren diplomatischen Kosten verbunden wäre als für Pakistan. Dieses könnte sogar Ukraine-Vergleiche aus dem Hut ziehen und sich als Opfer eines aggressiven grossen Nachbarn präsentieren. Es wird Indien aber nicht schwerfallen, auf die offensichtliche Provokation eines Attentats hinzuweisen sowie auf das Kalkül dahinter: Man holt den Rivalen, dessen Niveau man nicht erreichen kann, in den eigenen Sumpf einer instabilen und militärisch aggressiven Kleinmacht herab.
Premierminister Modi hat sich im Gegensatz zu seinem innenpolitischen Profil im Ausland das Image eines bedächtigen Staatsmanns und Vermittlers angeeignet und damit bisher Erfolg gehabt. Die ersten Reaktionen seiner Regierung – die Schliessung der Grenzen sowie die Aussetzung des Wasser-Abkommens zwischen beiden Staaten – zeigen, dass wirtschaftlicher Druck dem Nachbarn mehr schaden könnte als Säbelrasseln.
Kein hautnaher Schulterschluss mit Trump
Besonders der Indus Water Treaty von 1960 könnte das Rückgrat der pakistanischen Wirtschaft – die blühende Landwirtschaft der bevölkerungsreichen Provinz Panjab – lähmen. Neben dem Indus fliessen fünf weitere Ströme aus Indien kommend durch das Fünfstromland. Zwar verfügt Indien nicht über die Speicherkapazitäten, um diese Wassermassen (vor allem im Monsun) abzuzweigen. Aber das Land hat schon seit einigen Jahren begonnen, grosse Reservoirs zu bauen, ohne dass es sich um das Einverständnis des tiefergelegenen Anrainers kümmerte – ein klare Vertragsverletzung.
Unsicher ist, wie sich der neu ins Spiel gekommene «Trump-Joker» im regionalen und globalen Kräftespiel auswirken wird. Eine amerikanische Unterstützung für seinen Busenfreund wäre bei der Krämer-Arithmetik des Präsidenten nicht ohne Gegenleistung zu haben. Modi ist zudem klug genug, einem hautnahen Schulterschluss aus dem Weg zu gehen. Jedermann weiss, dass die Unterstützung dieses sprunghaften und weltweit verachteten Alliierten inzwischen mehr Ballast als Gewicht auf die Waage bringt.