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Sprach-Akrobatik

Nicht zur Nachahmung empfohlen

17. Juli 2015
Urs Meier
Grosse Schriftsteller zu lesen schult angeblich den guten Stil. Vielleicht stimmt das. Allerdings eher nicht, wenn man sie imitiert.

«Herzog Wilhelm von Breysach, der, seit seiner heimlichen Verbindung mit einer Gräfin, namens Katharina von Heersbruck, aus dem Hause Alt-Hüningen, die unter seinem Range zu sein schien, mit seinem Halbbruder, dem Grafen Jakob dem Rotbart, in Feindschaft lebte, kam gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts, da die Nacht des heiligen Remigius zu dämmern begann, von einer in Worms mit dem deutschen Kaiser abgehaltenen Zusammenkunft zurück, worin er sich von diesem Herrn, in Ermangelung ehelicher Kinder, die ihm gestorben waren, die Legitimation eines, mit seiner Gemahlin vor der Ehe erzeugten, natürlichen Sohnes, des Grafen Philipp von Hüningen, ausgewirkt hatte.»

So beginnt Heinrich von Kleists Erzählung «Der Zweikampf» (1811): mit einem mehrfach verschachtelten Satz, der 97 Wörter enthält, fünf Personen samt ihren komplizierten Beziehungen in der Art einer Denksportaufgabe einführt und die Geschichte zeitlich und örtlich ungefähr situiert. Darüber hinaus zeigt diese Eröffnung die eigentümlich stockende, mäandrierende Gangart und die distanzierte, ja fast unbeteiligte Sicht des Erzähltextes an.

Noch viel weiter als Kleist treibt es mit den Satzlängen dann ein Jahrhundert später Marcel Proust. Sein Riesenwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» (1927) besteht zu grossen Teilen aus überlangen Sätzen, die auch den aufmerksamen Leser immer wieder zum Einhalten und Nachlesen zwingen. Oft enthält ein einzelner Satz die Essenz des Proustschen Schreibens, nämlich das Ausloten von Schichten des Erinnerns und die Vergegenwärtigung französischer Lebenswelten im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Auch James Joyce, oft gemeinsam mit Proust als moderner Erneuerer des Romans genannt, hat sich in der Kunst der langen Sätze hervorgetan. Das Schlusskapitel seines «Ulysses» (1927), der berühmte Monolog der Molly Bloom, besteht aus einem einzigen endlosen Wortschwall. Anders als sein älterer Zeitgenosse Proust löst Joyce nun auch die Syntax auf. Molly Blooms Monolog ist ein ungehemmter Bewusstseinsstrom, von keinerlei Interpunktion gebändigt und kanalisiert.

Wären also lange, komplizierte Sätze Anzeichen eines herausragenden Stils? – Nach artistischen Einlagen in TV-Shows heisst es manchmal: nicht zur Nachahmung empfohlen. Das gilt auch für Schreibende, die noch nicht ganz in Kleists, Prousts oder Joyces Liga angelangt sind.

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