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Buch

Neue Materialien zur Kontroverse um Alfred Andersch

14. März 2025
Kathrin Meier-Rust
Alfred Andersch
Alfred Andersch bei einer Literaturveranstaltung im Jahr 1973 (Foto: KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str)

Der frühe Briefwechsel des jungen Alfred Andersch mit seiner späteren Frau, der Künstlerin Gisela Groneuer, lässt sein umstrittenes Verhalten in der NS-Zeit in einem nuancierteren Licht erscheinen. 

13 Jahre nach dem Tod von Alfred Andersch (1914–1980) erhob der dreissig Jahre jüngere Germanist und Schriftsteller W. G. Sebald gravierende moralische Vorwürfe zu dessen Verhalten in der NS-Zeit. Die sich daran anschliessende sogenannte Sebald-Debatte belastet das Ansehen des damals prominenten Nachkriegsautors bis heute. Sie bildet deshalb geradezu unvermeidlich auch den Hintergrund eines neuen, reichen Materialienbandes zu Alfred Andersch, der im «Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre» erschienen ist. 

Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft 

Anlass für die Publikation bot eine neu zugänglich gewordene Korrespondenz aus dem Nachlass von Alfred Andersch im Literaturarchiv Marbach mit der gleichaltrigen Malerin und Grafikerin Gisela Groneuer aus Wuppertal. Andersch lernt diese 1940 – mit 26 Jahren – kennen, verliebt sich unrettbar und wird sie zehn Jahre später in zweiter Ehe heiraten. Beide waren sie damals verheiratet, Andersch mit der Halbjüdin Angelika Albert, mit der er eine kleine Tochter hatte, Gisela mit dem Chemiker Paul Groneuer, dem offiziellen Vater ihrer vier Kinder.

Es sind in allererster Linie Briefe einer grossen, ja geradezu brennenden, ungeduldigen Liebe, die «Fred» auf nahezu jeder Seite dieser Briefe an sein «Giselchen», sein «Mädchen», zum Ausdruck bringt. Die Publikation setzt mit der Rückkehr von Andersch aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft im November 1945 ein, er ist nun 31 Jahre alt, Gisela hat gerade ihr viertes Kind geboren. Die Korrespondenz erstreckt sich über vier Jahre, bis das Paar im Sommer 1949 endlich das lange ersehnte Zusammenleben beginnen kann, um dann im Frühjahr 1950 zu heiraten. Andersch arbeitet in diesen Jahren zunächst für die ersten deutschen Publikationen unter amerikanischer Besatzung (Der Ruf, Neue Zeitung) und beginnt dann jene rastlose, geradezu gehetzte journalistische Karriere zwischen München, Hamburg und Stuttgart, die in den 50er Jahren in jene Pioniertätigkeit als Rundfunkredaktor der jungen Bundesrepublik mündet, für die er bis heute hochangesehen ist. 

Endlich schreiben

Zugleich ist Andersch in diesen Jahren vom brennenden Wunsch beseelt, sich selbst endlich als Schriftsteller zu beweisen und zusammen mit Gisela als freies Künstlerpaar leben zu können: Er sei, so etwa im Januar 1946, «von verzehrender und völlig unsinniger Ungeduld erfüllt: Ungeduld nach Dir, Ungeduld nach einem Leben, in dem nicht mehr geschrieben werden muss (gemeint ist hier journalistisches Schreiben) … Ich komme dauernd mit produktiven Menschen zusammen und kann selbst nicht – einfach widerlich».  Oder im Mai 48, Andersch arbeitet an eigenen Erzählungen: «Hoffentlich gelingt es mir, ein Dichter zu werden, sonst müsste ich wieder zur Publizistik zurückkehren.» 1952 erscheint dann endlich sein erstes Buch, «Die Kirschen der Freiheit», und der Grosserfolg des zweiten, «Sansibar oder der letzte Grund» von 1957, wird ihm die ersehnte Existenz als freier Schriftsteller und die «Auswanderung» der Familie nach Berzona ermöglichen. 

Erstaunlich wenig ist in diesen Briefen vom zerstörten Deutschland und von der Härte der ersten Nachkriegsjahre die Rede. Allenfalls ganz am Rande erinnern uns da «4 Stück Seife, 1 Tube Zahncreme» oder die Nachricht, dass Golo Mann ein «Carepaket» versprochen habe, an die damals herrschende Not und den Hunger. Und erst bei einem Besuch im unzerstörten Heidelberg ertappt Andersch «seinen Blick dabei, dass er nach Ruinen sucht …» 

Zu demselben Befund kommt die Herausgeberin Ulrike Leuschner in ihrem vortrefflichen Nachwort auch für die leider nicht publizierte, erste Hälfte des Briefwechsels von 1940–1945, die sie hier immerhin resümiert. Auch in jenen Jahren kreisen Anderschs Briefe vornehmlich um seine leidenschaftliche Liebe und Selbstsuche, während die äussere Realität des Dritten Reiches – Terror, Verhaftungen, Deportationen, selbst die Kriegsereignisse – «befremdlich» ausgeblendet bleibt. Zwar erwähnt er, dass seine Mutter 1943 in Hamburg ausgebombt wurde, aber vor allem, weil damit seine eigene Bibliothek verloren ging. Ebenso nebensächlich bleiben die Bombardierungen Berlins, das er 1943 besucht.  

«Sebald revisited»?

Mag sein, dass die Angst vor Zensur eine Rolle spielte. Doch mit den Ereignissen jener Jahre sind wir nun natürlich bei der Sebald-Debatte angelangt. Ulrike Leuschner strebt zwar kein «Sebald revisited» an, bietet dann aber doch neues Material sowie Überlegungen zu den Sebaldschen Fragen und Themen an. Etwa zur umstrittenen Scheidung Anderschs von seiner halbjüdischen Frau Angelika im März 1943: Hiezu böten sich hier neue «Aufschlüsse» schreibt Leuschner – leider erfahren wir sie nicht. Andersch setzte diese Scheidung damals gegen den Willen seiner Frau durch, um in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden und damit publizieren zu können, was er auch erreichte. 

Inwieweit er Angelika Albert mit dieser Scheidung gefährdet hat, bleibt bis heute umstritten, denn die NS-Gesetze und Verordnungen zum Umgang mit «Halbjuden» waren ebenso unklar wie widersprüchlich. Immerhin wurde Angelikas Mutter, die Jüdin Ida Hamburger, im Sommer 42 aus München nach Theresienstadt deportiert, wo sie den Tod fand – auch davon ist in diesen Briefen offenbar nie die Rede. Dass Andersch seine Ex-Frau und seine Tochter Suse in den folgenden Jahren immer finanziell unterstützte, beide während des Krieges und auch danach oft und lange bei seiner Mutter im Allgäu lebten und Andersch seine Tochter dort regelmässig besuchte – das allerdings bezeugen die veröffentlichten Briefe ganz klar. 

Der junge Alfred Andersch, im Herzen ein idealistischer Kommunist und sicherlich kein NS-Sympathisant, war offensichtlich ausschliesslich mit sich selbst beschäftigt: «Ich antwortete auf den totalen Staat mit totaler Introversion», wird er in «Kirschen der Freiheit» schreiben. Dass es ihm damals nicht einmal eingefallen sei, in Spanien zu kämpfen oder auch zu emigrieren – dafür hat sich Alfred Andersch in späteren Jahren ganz offen selbst angeklagt. «Er hat sich unsichtbar gemacht und hat schweigend auf den Augenblick der Befreiung gewartet», meinte Hans Magnus Enzensberger, der in jenen Nachkriegsjahren als Assistent von Andersch beim Hessischen Rundfunk war. 

Auch zu dem von W. G. Sebald erhobenen Zweifel, ob überhaupt und wie lange Andersch 1933 als 19-jähriger Jungkommunist im KZ Dachau eingesessen habe, bringt Ulrike Leuschner eine neue Quelle bei: den Brief eines Paul Bohnenstengel, der als amerikanischer Kriegsgefangener in Frankreich von Andersch hört und an seinen «ehemaligen Kameraden aus der Dachauer Zeit» schreibt.

Desertion im Juni 1944

Und schliesslich bringt der Band auch zur bezweifelten aktiven Desertion (im Gegensatz zu ganz gewöhnlicher Gefangennahme durch die Amerikaner) von Alfred Andersch im Juni 1944 an der italienischen Front ein neues Dokument: einen langen Brief an Gisela, geschrieben über mehrere Tage im Juni 44, also in den Tagen vor der geplanten Desertion, ein Plan, den er selbstverständlich in dieser Feldpost mit keinem Wort erwähnt. Ulrike Leuschner hält klar fest, dass Andersch tatsächlich seine Desertion in vier Erzählungen viermal unterschiedlich und lückenhaft dargestellt habe. Doch es handle sich dabei klar um Fiktion, meint die Autorin, es sei deshalb müssig, den literarischen Text mit Fakten zu kontern, denn ausschlaggebend sei nicht ein «ominöser Wahrheitsgehalt», sondern die Wirkung von Literatur. 

Im Falle von «Die Kirschen der Freiheit», ein autofiktionaler Bericht, der den langen gedanklichen Weg zur Desertion als existentialistisch-philosophischen Entwicklungsprozess des Protagonisten darstellt, war diese Wirkung im Jahr 1952 tatsächlich enorm: Unter dem Titel «Die Ehre des Deserteurs» lobte «Der Spiegel» damals die «neuartige Mischung von autobiographischem Bericht, ätzender Zeitkritik und existentialistischer Freiheitsmeditation» – und entfachte damit eine vehemente Debatte um die Fahnenflucht. 

Tatsächlich dürfte die Autofiktion von Alfred Andersch – neben den «Kirschen der Freiheit» sind dies eine Handvoll Erzählungen um sein Alter-Ego Franz Kien – die eigentliche literarische und bis heute lesenswerte Leistung dieses Autors bleiben. Dies im Gegensatz zu seinen sehr zeitgebundenen Romanen, deren merkwürdig geschönte und verdrehte Darstellung der NS-Realitäten neben W. G. Sebald auch die Germanistin und Schriftstellerin Ruth Klüger irritiert hat. In Bezug auf die Darstellung jüdischer Personen sieht diese Autorin, die Ausschwitz als Kind überlebt hat, hier eine «Wiedergutmachungsphantasie» am Werk, die allerdings geradezu notwendigerweise in Kitsch münden müsse. Hans Magnus Enzensberger dürfte es in seinen Erinnerungen an Alfred Andersch richtig treffen: «Die Gespenster von 1933 haben Andersch sein Leben lang heimgesucht.» 

Merkwürdiges Patchwork

So verdienstvoll die Briefpublikation – sie hinterlässt gewisse Paradoxe. Zum einen die Frage nach der Adressatin: Gerade weil diese Briefe so leidenschaftlich um die Geliebte kreisen, vermisst die Leserin natürlich deren Antwortbriefe – man würde Gisela gerne besser kennenlernen. Dass dann in Ulrike Leuschners Nachwort ganz unvermittelt doch ein solcher Antwortbrief auftaucht und – nota bene undatiert! – zitiert wird, wirft immerhin ein Licht auf das damalige Bohème-Leben der jungen Künstlerin: Der verliebte Fred erfährt hier, sogar mit Hilfe einer Skizze, dass er nicht nur gegen einen Ehemann, sondern gegen mindestens drei weitere Rivalen antritt!

Zum Zweiten: Dass hier nur die zweite Hälfte dieser Anderschen Privatbriefe publiziert wird, erhellt zwar die publizistische und kulturelle Szene der Nachkriegsjahre, auch die Gründung der Gruppe 47 etwa, bei der Andersch federführend war – lässt aber genau die strittigen Ereignisse der Sebald-Debatte weithin in einem Dunkel, das dann von einzelnen Briefen plötzlich doch erhellt wird. Die ganze Edition bleibt damit ein etwas merkwürdiges Patchwork.

Deutsche Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg in Italien 

Nebst wunderbaren Fotos der Protagonisten aus der damaligen Zeit ergänzen eine Handvoll literaturwissenschaftliche Beiträge zu Aspekten des Anderschen Schaffens und zu seinem damaligen Netzwerk die Briefpublikation. 

Von besonderem Interesse ist ein kurzer Text des italienischen Historikers Carlo Greppi, der einen Überblick zum Thema Desertion im Zweiten Weltkrieg in Italien versucht, inklusive der vorhandenen Forschungsliteratur zum Thema. Bei 20 Millionen deutschen Soldaten an vielen Fronten gab es im Zweiten Weltkrieg insgesamt 22’000 Todesurteile wegen Fahnenflucht, von denen rund 15’000 vollstreckt wurden. (Dies im Vergleich zu 48 im Ersten Weltkrieg, oder zu 40 in der Britischen Armee im Zweiten Weltkrieg.)  Greppi vermutet auf Grund dieser Urteile die Gesamtzahl der Desertionen aus der Wehrmacht um etwa 100’000, eine ausgesprochen hohe Schätzung. An der italienischen Front sieht er im Sommer 1944 (mit dem D-Day vom 6. Juni und dem Stauffenberg-Attentat vom 20.Juli) eine besonders intensive Zersetzung der deutschen Armee: 2000–3000 Angehörige der deutschen Wehrmacht hätten sich damals in wenigen Monaten den italienischen Partisanen angeschlossen, schätzt Greppi. Bis heute sieht der Historiker in der Geschichte der Deserteure eine Art letztes Tabu im kollektiven Gedächtnis, ein «Elefant, der in gespenstischer Stille durch die Ruinen des Zweiten Weltkriegs wandert». 

Günter Häntzschel, Sven Hanuschek, Ulrike Leuschner (Hrg): Alfred Andersch. Treibhaus, Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Bd 20. Edition text + kritik, 2024. 

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