
Mehr als 440 Tote und über 660 Verletzte forderten die israelischen Angriffe in der Nacht auf Dienstag, weitere 24 Menschen starben am Mittwoch. Die israelische Regierung versucht nun, sich nach dieser «Öffnung der Höllentore» in Gaza zu rechtfertigen: Hamas sei stur, verweigere sich allen Kompromissen um die Verlängerung einer zeitlich befristeten Kampfpause und trage daher die Verantwortung dafür, dass die Menschen im Küstenstreifen nun wieder bombardiert werden.
Die Faktenlage ist anders: Israel und Hamas hatten sich im Januar, als Reaktion auf Druck der US-amerikanischen Trump-Regierung, schriftlich auf einen Drei-Stufen-Plan geeinigt. In einer ersten, auf 60 Tage vereinbarten Zeitspanne, sollte Hamas eine bestimmte Zahl jener Geiseln freilassen, die sie beim Überfall vom 7. Oktober 2023 entführt hatte – Israel würde im Gegenzug die Kampfhandlungen einstellen und über tausend Palästinenser aus seinen Gefängnissen entlassen. Nach Ablauf dieser Frist sollte eine zweite Phase beginnen, in der Hamas alle weiteren Geiseln freilassen und die israelischen Streitkräfte sich völlig aus dem Gaza-Streifen zurückziehen würden.
Hamas kaum geschwächt
Die Verpflichtungen der ersten Phase wurden von beiden Seiten erfüllt. Aber dass die zweite Phase für Netanjahu und seine Regierungsmitglieder eigentlich nicht akzeptabel ist, war von Anfang an klar (nur sagte oder schrieb das niemand): völliger Rückzug der Truppen aus dem Gaza-Streifen. Das würde bedeuten, dass Israel sich damit abfinden müsste, dass Hamas, die Auslöserin des Konflikts, sich neu organisieren, also auch in Zukunft einen Machtfaktor bilden könnte. Netanjahus Ziel aber war (und ist nach wie vor) die völlige Vernichtung von Hamas – und die Befreiung sämtlicher Geiseln (zur Zeit befinden sich noch etwa 50 in der Gewalt der Terroristen, aber von denen leben, das schätzt man so in Israel, wohl nur noch 24).
Israel Katz, Israels Verteidigungsminister, rechtfertigte die Wiederaufnahme der Attacken auf den Gaza-Streifen am Mittwoch mit dem Hinweis, dass «die Spielregeln sich verändert» hätten. Aber es sind nicht die Spielregeln, sondern es handelt sich um die Erkenntnis der israelischen Politiker, dass die Terrororganisation Hamas auch nach 16 Monaten eines zerstörerischen Vergeltungskriegs gut organisiert, auf jeden Fall viel stärker als erwartet ist. Der israelischen und internationalen Öffentlichkeit wurde das bei jeder Geiselfreilassung demonstriert: Gut mit Waffen ausgerüstete, gut uniformierte Stosstrupps präsentierten sich vor den Kameras, sie traten diszipliniert (schein-diszipliniert vielleicht) auf, skandierten ihre Slogans und fuhren danach wieder in weissen Toyota-Pickups davon.
Die Bedrohung bleibt bestehen
Recherchen zeigten überdies: Hamas konnte, auch unter den Feuersalven aus israelischen Raketen und dem Kugelhagel israelischer Flugzeuge, tausende junge Palästinenser rekrutieren, so dass die aktuelle Schätzung lautet: Hamas ist, personell, derzeit kaum weniger stark als zu Beginn des Kriegs. Was die Terrororganisation verloren hat, sind die prominenten Köpfe wie Yahia Sinwar oder Mohammed Deif, ist wohl auch ein grosser Teil des Waffenarsenals und der Tunnelbauten im Untergrund von Gaza – aber was noch vorhanden ist, kann, so die wohl nicht unbegründete Befürchtung bei israelischen Politikern, auch in Zukunft zur tödlichen Bedrohung für die Bevölkerung des jüdischen Staats werden.
Jetzt bombardiert Israel also wieder den bereits weitgehend in Schutt und Asche gelegten Gaza-Streifen mit seinen 2,2 Millionen Menschen, vielleicht in der Erwartung, dass die Hamas sich angesichts der neuen, gewaltigen Opfer bei der Zivilbevölkerung, doch noch zur Erkenntnis durchringen könnte, dass es besser sei, die Phase eins des provisorischen Waffenstillstands zu verlängern und einige weitere Geiseln freizulassen, als darauf zu beharren, dass nun, den Buchstaben der Vereinbarung vom Januar entsprechend, Phase zwei beginnen müsse.
Ungedeckte Checks
Gewisse Verhandlungen laufen tatsächlich weiter, sogar unter israelischem Bombenhagel. Und parallel dazu wird auch auf verschiedenen Ebenen über die «Zeit nach einem Krieg» (also die dritte Phase in dem im Januar von Israel und Hamas akzeptierten Plan) debattiert. Die Regierungen der Mitgliedsländer der Arabischen Liga haben, unter Führung Ägyptens, einen Wiederaufbauplan skizziert, der allerdings mit dem Mangel behaftet ist, dass niemand sich finanziell (es geht um mindestens 50 bis 70 Milliarden Dollar) verpflichten will.
US-Präsident Trump anderseits hat zwar, wenigstens mal so zwischendurch, Abstand von seinem grossen Projekt genommen, den Gaza-Streifen in eine Riviera des Nahen Ostens zu verwandeln, aber die Emissäre des amerikanischen Präsidenten und Ex-Immobilien-Unternehmers versuchen weiterhin, die Regierungen verschiedener Länder dazu zu bewegen, einige hunderttausend Palästinenser aufzunehmen. Im Fokus der US-Vermittler stehen Sudan (ausgerechnet das Land mit einem mörderischen Bürgerkrieg und der weltweit schlimmsten humanitären Situation); Somalia (ein Land mit einem sich zwar abschwächenden, aber immer noch virulenten internen Konflikt mit islamistischen Extremisten); und Somaliland (177’000 Quadratkilometer gross, von Somalia abgespalten und von keinem anderen Staat anerkannt).
Die Regierungen in Khartum und Mogadischu verabschiedeten die amerikanischen Emissäre bereits mit einem Nein, von den Behörden von Somaliland ist noch keine Reaktion bekannt geworden. Vielleicht lassen sie sich ja auf das ein, was US-Präsident Trumps «Spezialität» ist, auf einen Deal zum Beispiel des Inhalts «diplomatische Anerkennung als Preis für die Aufnahme von Palästinensern». Damit würden die USA allerdings Somalia, das nie auf Somaliland verzichtet hat, vor den Kopf stossen und möglicherweise einen neuen Konflikt provozieren. Und ob Menschen aus dem Gaza-Streifen sich freiwillig in unwirtliche Regionen am Horn von Afrika verpflanzen lassen würden, bleibt sehr, sehr fraglich.