
Weil sich bei der für 2027 vorgesehenen eidgenössischen Abstimmung über das ausgehandelte Rahmenabkommen CH-EU ein Ja-Volksmehr abzeichnet, ködern jene Milliardäre, die aus persönlichen Gründen strikt dagegen sind, neuerdings mit dem «Buebetrickli»: Sie würden ihren Widerstand aufgeben, sofern die Vorlage auch vom Ständemehr gutgeheissen werden müsste.
Ein möglicher Volks-Ja-Entscheid soll durch die Klausel ausgehebelt werden, dass es auch der Zustimmung der Stände bedürfe. Damit könnten die Nein-Initianten bewirken, dass die kleinen, konservativen Kantone mit ihrem absehbaren Nein den Volksentscheid versenken würden. Konkret hiesse das, dass eine Volksminderheit die Volksmehrheit «bodigen» könnte. Damit würden eine kleine Minderheit von konservativen, vielfach bäuerlich geprägten Menschen und eine Handvoll Milliardäre über die Zukunft der Schweiz bestimmen.
Wortgefechte im Vorfeld der Abstimmung
Der Bundesrat hat sich Ende April 2025 aufgrund des Gutachtens des Bundesamts für Justiz für die Variante Volksmehr (also gegen das Ständemehr) entschieden. Noch vor den Sommerferien will er das Ganze in die Vernehmlassung schicken. Erst im März 2026 dürfte das Parlament dran sein. Die Kompass-Initianten, die sich für ein kategorisches Nein zur Vorlage starkmachen, drohen jetzt schon mit der Lancierung einer Volksinitiative, die ein doppeltes Mehr fordert.
Was würde das heissen? Obige Gegner argumentieren damit, dass bei einer derart wichtigen Abstimmung ein doppeltes Mehr absolut notwendig sei. Der Bundesrat und seine Rechtsberater sehen das anders und argumentieren u. a. damit, dass auch bei den Abstimmungen zu den Bilateralen 1999 und 2004 nur das fakultative Referendum galt.
Man könnte allerdings die Argumentation der Gegner, dass bei einer derart wichtigen Abstimmung ein doppeltes Mehr absolut nötig ist, auch anders interpretieren. Soll es denn möglich werden, dass «bei einer so wichtigen Abstimmung» eine krasse Minderheit der Schweizerinnen und Schweizer mit ihrem Nein die grosse Mehrheit der Ja-Stimmenden aushebeln könnte? Das Parlament wird nächstes Jahr darüber zu entscheiden haben.
Dass sich der Bundesrat so früh für das fakultative Referendum ausgesprochen hat, überrascht einigermassen. Dass er gleichzeitig einzelnen Parteien und Verbänden Einblick – offiziell momentan noch unter Verschluss – in die genauen Texte zugestand, ist zumindest diskutabel. Damit hat er sich den Zorn all jener zugezogen, denen dieses Privileg nicht gewährt wird. Wenn es zutrifft, dass neben den beiden SVP-Bundesräten auch Karin Keller-Sutter gegen dieses Vorgehen votiert hat, spricht das nicht für die FDP.
Grundlagen eines Vertrags
Vielleicht sollten wir uns wieder einmal vergegenwärtigen, was u. a. einen guten Vertrag zwischen zwei Parteien auszeichnet: Stipulierung des Ziels der Kooperation, verständliche Formulierung juristischer Passagen, beide Partner gleichberechtigt, ausgewogenes Geben und Nehmen respektive Verzichten und Profitieren, mögliche nachträgliche Änderungen geregelt, geltendes Recht beachtend.
Diese und andere Vertragspassagen sollen sicherstellen, dass beide Partner mittel- und langfristig profitieren. Auf diesen EU-Vertrag bezogen stellt sich die Grundsatzfrage: Wollen wir Schweizerinnen und Schweizer, im Herzen Europas gelegen, im 21. Jahrhundert als Partner der Europäischen Union die Zukunft gemeinsam mit unseren Nachbarländern gestalten oder ziehen wir es vor, quasi als Insel der Glückseligen gemäss den Spielregeln des 19. und 20. Jahrhunderts der Illusion «allein sind wir stark» nachzuträumen? Gegner argumentieren, dass «wir die Souveränität verlieren» würden. Haben denn alle 24 EU-Nationen keine nationale Souveränität mehr?
Geben und Nehmen im EU-Vertrag
Jetzt wird klar, dass wir bereit sein müssen, bei einigen Punkten von unseren Vorstellungen abzurücken und nachzugeben. Gleiches verlangen wir ja von der EU. Beide Seiten haben signalisiert, dass sie dazu bereit sind.
An dieser Stelle fällt auf, dass die Exponenten der Gegnerschaft einzelne Punkte des Vertrags, die ihnen nicht in den Kram passen, willkürlich herauspicken und vehement kritisieren. Dabei ignorieren sie all jene Paragrafen, die sich zugunsten der Schweiz auswirken werden. Von ganzheitlicher Sicht und Interpretation keine Spur. Warum machen sie das?
Dass Christoph Blocher im Mai 2025 irreführende Informationen zur Thematik Ständemehr aus seiner Zeit als Bundesrat (2004) verbreitete, wurde postwendend vom früheren Vize-Direktor des Bundesamtes für Justiz Luzius Mäder korrigiert. Blochers Aussage sei «klar falsch» (Tages-Anzeiger).
In der NZZ vom 2. Mai 2025 wird ausführlich ausgebreitet, was passieren könnte, wenn sich der gemischte Ausschuss nicht einigen würde und der Fall dem Schiedsgericht unterbreitet würde. Dieses würde – wird das Problem inzwischen nicht gelöst – den EuGH anrufen und dieser würde gegen die Schweiz entscheiden und wir müssten (vielleicht) mit Ausgleichsmassnahmen rechnen. Wenn, würde, müsste – vielleicht, vielleicht auch nicht – alles an den Haaren herbeigeredet, um Unsicherheit zu verbreiten.
Im gleichen Blatt wurde am 30. April 2025 verkündet, «das Ständemehr sei nicht nur staatspolitisch richtig und juristisch vertretbar, sondern auch mit Blick auf den Zusammenhalt des Landes geboten». Gegenfrage: Ist es denn für den Zusammenhalt der Schweiz hilfreich, wenn eine klare Minderheit der Abstimmungsberechtigten das eindeutige Ja der Bevölkerungsmehrheit zur Vorlage aushebelt?
Ein Wort zum Ständerat
Der Ständerat wurde 1848 eingeführt, als Konzession an die (katholischen) Verlierer, zugestanden durch die (reformierten) Sieger des Sonderbundkrieges, um den Befürchtungen der Katholiken, minorisiert zu werden, Rechnung zu tragen. 177 Jahre später ist nur schon durch die gegenwärtige Mehrheit der Katholiken in der Schweiz keine kulturelle Minderheit mehr zu schützen (Adrian Vatter).
Heute haben wir es deshalb beim Ständerat mit einer reformbedürftigen innerparlamentarischen Kontroll- und Korrekturinstanz zu tun. Das Ständemehr erfüllt seine ursprüngliche Funktion nicht mehr, es begünstigt vielmehr den unzeitgemässen Umstand, dass eine mehrheitlich konservative Minderheit den schweizerischen Weg in die Zukunft blockieren kann.
Die Schweiz und die EU
Gegner und Befürworter einer stärkeren Anbindung der Schweiz an die EU bekämpfen sich seit bald 40 Jahren. Dies ist ein beklagenswerter Zustand. Heute, im Zeitalter eines weltweiten Trends zur Aushebelung der demokratischen Errungenschaften, ist es umso dringlicher, dass sich unser Land mit seinen Nachbarn verbündet, Kooperationen eingeht und Bündnisse pflegt.
In diesem Zusammenhang ist eine vermehrte Zusammenarbeit im Rahmen der NATO sinnvoll. Das Märchen von der «ewigen Neutralität» der Schweiz ist ein Standardspruch der Kooperationsgegner. Dass wir nicht wirklich neutral sind (und waren), wissen wir ja längst. Die heutige Dominanz Russlands und seine unverfrorenen Expansionsgelüste Richtung Europa sollten uns als Augenöffner dienen.
Wir haben auch hautnah erlebt, was es heisst, am Forschungsprogramm Horizon ausgeschlossen zu werden. Studierende und Wissenschaftler im Land haben das teuer bezahlt. In letzter Zeit zeichnet sich ab, dass diese EU-Blockade 2026/2027 wieder fallen könnte. Ein Lichtblick. Dies ist umso wichtiger, als die Schweiz in der Vergangenheit immer in der Spitzengruppe bei Patenten und Erfindungen mitspielte – ohne geregelte Verhältnisse mit der EU könnte dieser Zustand erodieren.
Der angesehene Historiker Thomas Maissen hat im Mai 2025 in der NZZ ausführlich Stellung genommen zur Thematik. «Das Bild der Diktatur aus Brüssel drückt aussenpolitisch Undankbarkeit aus», meint er.