Seit längerem gab es keine Museumsausstellung von Alois Lichtsteiner (*1950, lebt in Murten) in der Schweiz. Nun zeigt das Museum Franz Gertsch seine neueste Produktion: ein malerisches Erwandern von Gebirgslandschaften.
Alois Lichtsteiner zeigt im Museum Franz Gertsch seine neuen Grossformate. Das Museum trägt den Namen des Künstler Franz Gertsch (1939–2022). Im Gegensatz zu anderen Museen, die einem einzelnen Künstler gewidmet sind, zeigt es nicht ausschliesslich Werke Gertschs – wohl im Wissen darum, dass es mit der Zeit an Attraktivität und damit auch das Interesse seines Publikums verlieren würde. Es knüpft vielmehr Beziehungen nach aussen an, lädt andere Künstlerinnen und Künstler ein und entwickelt seine Programme mit Bedacht. Dabei sucht das Museum kaum nach stilistischen Verwandtschaften und geht bei der Suche nach Künstlerinnen und Künstlern Zufälligkeiten der «Wahlverwandtschaften» aus dem Weg. Dies aus guten Gründen: Einerseits lässt sich Franz Gertschs künstlerisches Vorgehen nicht wiederholen. Andererseits liessen sich Verbindungen in der Motivwahl zum Beispiel wohl leicht finden, doch sie wären kaum sehr ergiebig, weil sie an der Oberfläche blieben und Tiefen vermissen liessen.
«Tot aufgefunden»
Alois Lichtsteiner, der in Ohmstal, einer landwirtschaftlich geprägten Streusiedlung in der Nähe von Schötz im hügeligen Luzerner Hinterland, geboren wurde, malte in den 1980er und 1990er Jahren in schweren und üppigen Farben. Ulrich Loock gab dem noch jungen Maler 1992 in der von ihm geleiteten Berner Kunsthalle ein Forum. In der Folge hatte er Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in Museen des In- und Auslands, so zum Beispiel in Shanghai, Paris, Grenchen, Bern, Luzern, Leipzig, München.
Das Museum Franz Gertsch zeigt in der mehrere Räume umfassenden und von Anna Wesle kuratierten Ausstellung einige Grossformate Alois Lichtsteiners aus jener frühen Zeit – darunter auch eine Malerei, die thematisch und im energisch zugreifenden Malgestus an die «Jungen Wilden» der 1980er Jahre anschliesst. «Tot aufgefunden» lautet der Titel dieses Werkes von 1983, das ein schwarzes Knäuel-Gebilde – einen Haarschopf, einen Kopf? – auf einem Holzsockel zeigt. Der breite Pinsel, mit dem der Maler das schwer zu deutende Gebilde eben gemalt hat, liegt nebenan.
Vielleicht zeigt das Bild, was Lichtsteiner damals beschäftigte: die immer wieder und vor der Entstehungszeit des Werkes mit besonderem Nachdruck totgesagte Malerei. In der Ausstellung in Burgdorf bildet «Tot aufgefunden» zusammen mit einigen der in zeitlichem Umfeld damit entstandenen «Gefässe»-Bildern den Ausgangspunkt einer malerischen Reise, die von der üppig-schweren Farbigkeit erst zu auf Schwarz-Weiss reduzierten Berglandschaften führt, in die in jüngster Zeit die Farbe vorerst als kleine Spuren, dann aber als die Atmosphäre prägendes Element zurückkehrt.
Verzicht auf üppige Farbigkeit
Alois Lichtsteiners Beziehung zur Farbe zieht sich durch die ganze Präsentation seiner grossformatigen Werke im Museum Franz Gertsch. Es mag erstaunen, dass sich an die erwähnte üppige Verwendung der Farbe der Entscheid des Malers anschliesst, auf Farbe möglichst zu verzichten. Sein Rückzug auf Grautöne – auf die Verwendung von Titanweiss und Elfenbeinweiss, wie die Farben im Fachjargon heissen – ist von beeindruckender Radikalität.
Doch grau ist nicht einfach grau. Lichtsteiner formuliert in diesen Grautönen auf subtile Weise die ganzen Abstufungen vom Dunklen zum Hellen. Und er scheint seine Aufmerksamkeit so intensiv auf alle möglichen Zwischentöne auszurichten, dass, wer sich in diese Malereien vertieft, kaum mehr nach einer sichtbaren Realität fragt, die sie abbilden. Dennoch handelt es sich nicht um Graumalerei ohne Thema: Man entdeckt auf den Leinwänden Landschaften – oder vielmehr: Erinnerungen an erlebte Landschaften, an Wanderungen im Gebirge, auf Schneefeldern und zwischen Felsbrocken, die ihre dunklen Schatten auf das Weiss des Schnees werfen.
Gegenüber früher hat Alois Lichtsteiner die malerische Praxis geändert. 2006 beschaffte er sich Material für acht 244 auf 320 cm messende Bilder. Diese acht Werke zeigt er nun erstmals gemeinsam in einem Raum, und er zeigt auch, wie er nach Jahren der «Farb-Askese» allmählich und subtil wiederum Farbelemente in seine Arbeiten einfliessen lässt. Doch der Malvorgang ist komplexer als vor 25 Jahren. Vor allem bedient sich Lichtsteiner der Fotografie als «Zwischenmedium», die er auf die Leinwand projiziert. Er zeichnet die Umrisse der einzelnen Elemente – wenn man sie benennen will: Felsbrocken, Steine, apere Flächen – nach und nähert sich diesen Konturen mit dem farbgetränkten Pinsel an.
Wer nahe an die bemalte Oberfläche der Grossformate herantritt und weniger das Ganze als vielmehr das Detail in den Blick nimmt, kann in den Bildern des Steins oder des Schnees Spuren von Farbe entdecken – und er wird, da die Farbmaterie sich wellt, sich an den Rändern aufwirft und Volumen annimmt, auch Zeuge davon, dass Malerei Skulptur und Skulptur Malerei sein kann. In einigen Fällen bleibt es nicht bei den Spuren von Farbe. Statt der Grau-Abstufungen zeigt Lichtseiner Variationen von Braunrot, in das er hier einen kleinen gelben und dort einige blaue Flecken setzt.
Gegenstandsnähe – Ungegenständlichkeit
Wenn die neue Werkpräsentation Lichtsteiners im Museum Franz Gertsch stattfindet, kann man nach den Gründen für dieses Zusammengehen fragen. Wie oben betont, beruht es nicht auf schulmeisterlichen stilistischen Fragen und auch nicht auf motivischen Zufälligkeiten – in dem Sinn etwa, dass sich beide Künstler der Landschaft zuwenden. Eher ist es ein zwischen Gertsch und Alois Lichtsteiners vergleichendes Sehen, in welchem die Frage nach der Gegenstands-Nähe oder der Ungegenständlichkeit dieser Malereien ins Zentrum rückt.
Bei Franz Gertsch ist auf Anhieb deutlich, was die Bilder zeigen: Die Wirklichkeit der menschlichen Figur in den Portraits oder die Wirklichkeit der Natur im Lebensraum des Künstlers. Das Bild dieser Wirklichkeit ist, aus Distanz gesehen, klar. Die Genauigkeit der Wiedergabe verliert sich aber im Unscharfen, je stärker man sich der Malerei physisch nähert. Die Präzision des «Fotorealismus» kippt ins Ungegenständliche: Die malerische Analyse des fotografierten Lichts überdeckt den Bildgegenstand. Beide Typen der Malerei – Realismus und Abstraktion – berühren sich. Die Grenzen werden durchlässig.
Auch in Alois Lichtsteiners Malerei sind die Grenzen durchlässig. Auch hier berühren sich die beiden Pole. Ein Beispiel: Um das Jahr 2000 malte er eine Werkgruppe, deren Teile er mit «Ohne Titel (Birke)» überschrieb. (Sie sind im Museum Franz Gertsch nicht zu sehen.) Das in der Gegenwartskunst häufig verwendete «Ohne Titel» verweist auf den autonomen, nicht-illustrativen Charakter dieser Malerei. «(Birke)» beschreibt deren Ausgangspunkt – eben die Birke, konkret die Rinde dieses Baumes, die von einer dünnen und verletzlichen weissen Haut überzogen ist – ähnlich wie die Farbe als Haut die Leinwand überzieht. Mit dem in Klammern gesetzten Wort «Birke» holt Lichtsteiner den Gegenstandsbezug zurück in seine Malerei, die beides gleichzeitig ist – gegenständlich und ungegenständlich. Da reichen sich, ähnlich der Malerei Franz Gertschs, Nähe und Distanz die Hand.
Der Titel «Es ist nicht, was es ist», den Alois Lichtsteiner seiner Ausstellung gibt, beschreibt (auch) das Paradox, dass sich Nähe und Ferne in einem Punkt der Malerei treffen. Die Malerei Lichtsteiners beruht auf dem Sowohl-als-auch-Prinzip. Da geht es nicht um ein apodiktisches Entweder-Oder. Was dann weit über «malerische Interna» hinausweist und als Metapher für eine grundsätzliche Lebensdevise gelesen werden kann.
Alois Lichtsteiner: «Es ist nicht, was es ist»
Museum Franz Gertsch, Burgdorf
Bis 1. März 2026
Katalog herausgegeben von Anna Wesle, Modo Press, Frankfurt, 38 Franken