Die japanisch-schweizerische Künstlerin Leiko Ikemura (*1951 in Japan) gab ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Chur den Titel «Das Meer in den Alpen». Das Meer nimmt sie als ein Bild des ewigen Flusses und der ewigen Bewegung des Lebens. In der Berglandschaft Graubündens fand sie 1989 einen Rückzugsort, der zum Neubeginn führte.
Eine Retrospektive strebten weder die Künstlerin Leiko Ikemura noch der Kurator Damian Jurt mit der neuen Ausstellung im Bündner Kunstmuseum an. Es galt nicht, ein Lebenswerk zur Geltung zu bringen, wohl aber, in den um den Treppenhaus-Kern herum angeordneten Räumen im zweiten Untergeschoss des Museums einen wesentlichen Aspekt im Schaffen der Künstlerin in den letzten rund 30 Jahren herauszuschälen und auch mit der Gestaltung der Ausstellung nachvollziehbar zu machen.
Es geht um eine um 1989 einsetzende neue Begegnung der Künstlerin mit der Natur, konkret mit der Berglandschaft. Leiko Ikemura, die 1972 als junge Frau von Japan nach Europa kam und sich vorerst in Spanien und 1979 in der Schweiz in einem für sie völlig neuen kulturellen Umfeld wiederfand, erlebte die damals teils heftig aufbegehrende Malerei der «jungen Wilden». Sie fand vor allem in Zürich bald Kontakt zu gleichaltrigen Schweizer Künstlerinnen und Künstlern. Ihr Schaffen wurde rasch rezipiert.
1981 war sie mit Agnes Barmettler, Martin Disler, Urs Lüthi, Peter Roesch, Klaudia Schifferle und anderen in einer Wanderausstellung über Kunst aus der Schweiz in Innsbruck, Wien und Frankfurt vertreten, 1987 mit Monika Dillier, Anna Wiesendanger, Christoph Rütimann, Hannah Villiger und wiederum mit Martin Disler in der Ausstellung «Offenes Ende» in Erlangen und Nürnberg.
1983 widmete die Zeitschrift «Kunstforum international» der «Situation Schweiz» eine Sondernummer. Leiko Ikemura fand sich da in bekannter Gesellschaft – neben den einem Neo-Expressionismus verpflichteten Schweizer Künstlerinnen und Künstlern wie Anselm Stalder, Felix Müller, Luciano Castelli, Miriam Cahn, Anton Bruhin und wiederum Agnes Barmettler und Martin Disler. 1987 war ihr in der Übersichtsausstellung über «Junge Schweizer Kunst» mit dem Titel «Stiller Nachmittag» im Kunsthaus Zürich zu begegnen.
Sensibilität und Energie
Ihre «Auszeit» im Jahr 1989 in den Bündner Bergen erscheint als eine Art Rückzug aus der unruhigen Betriebsamkeit der damaligen Kunst. Leiko Ikemura schlug ihren eigenen Weg ein, dem sie bis heute treu geblieben ist. Mit «Sensibilität und Energie» liesse sich dieser Weg benennen: Ihr Umgang mit den künstlerischen Ausdrucksmitteln, die sie in Malerei, Skulptur und Videoprojektion nutzt, ist feinfühlig, offen und voller Ambivalenzen.
Gleichzeitig treibt sie die vertiefende künstlerische Recherche über ihr Verhältnis zu Natur und Landschaft mit einer Energie voran, die eine intensive und die Künstlerin fordernde Ausstellungstätigkeit einschliesst und auch zu internationaler Vernetzung und Anerkennung führte: Unmittelbar an ihre Churer Präsentation zeigt sie ihre Werke in einer völlig anders konzipierten Ausstellung in der prominenten Albertina in Wien sowie in einer Gruppenschau in der Kunsthalle Helsinki; und schon nächstes Jahr folgt, neben weiteren Ausstellungen, ihre Teilnahme an der Biennale von São Paulo.
Auch ihre Auseinandersetzung mit den Churer Museumsräumlichkeiten ist intensiv. Die Künstlerin arbeitete eine ganz Woche im Churer Museums, dessen Crew – so Leiko Ikemura – die Künstlerin nicht nur im Aufbau der Ausstellung unterstützte, sondern auch selber ihr kreatives Potenzial ausspielen und in die Entscheidungsprozesse eingreifen konnte.
Dazu gab es durchaus Spielraum, denn beim Betreten des ersten, opulent gestalteten Ausstellungssaals sieht man sich in einer aus Kiesinseln bestehenden Landschaft, in die die Künstlerin nicht nur ihre Skulpturen – Fabel- und Zwitterwesen mit rätselhaften und phantasieanregenden Namen wie «Papagei-Usagi», «Miko» oder «Tata» –, sondern auch grosse Felsbrocken aus der Bündner Alpenwelt setzt, die sie, wie sie sagt, der Natur nur entlehnt, um sie nach Ausstellungsende wieder der Natur zurückzugeben. An den Wänden zeigt sie grossformative Malereien (Tempera auf Jute) mit dem Titel «Genesis» – kosmische Landschaften als Ort des Entstehens und (ihres?) Heranwachsens – und «Zarathustra» als Hommage an den im Engadin präsenten Friedrich Nietzsche.
Schutzgöttin «Papagei Usagi»
«Papagei Usagi» ist ein Beispiel für die Ambivalenzen mancher ihrer Arbeiten. Von einem Papagei ist kaum etwas zu sehen. Wohl aber denkt man an einen Hasen – ein «Lieblingstier» Ikemuras – mit langen, wie Antennen aufgestellten Ohren, an ein listiges, Haken schlagendes Tier, das janusköpfig ist, hinten ein menschliches Gesicht trägt und gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft blickt. «Usagi» hat verschiedene Bedeutungen, spielt, in der japanischen Pop-Kultur beheimatet, unterschiedliche Rollen und gilt, da meist weiblich, als gutmeinende, aber ebenso auch als bedrohliche Superheldin.
Usagi wird allgemein rezipiert als Symbol japanischer populärer Kultur. In Ikemuras grosser Version ist Usagi hohl und bietet, analog zu einer Schutzmantelmadonna in der christlichen Bildtradition, Schutz und Geborgenheit. Man könnte hineinschlüpfen oder, wenn die Figuren klein sind, sich hineindenken. Eine Schutzgöttin, mit der die Künstlerin auch den Bogen schlägt von Japan nach Westeuropa – ein bis in die Bemalung der Bronze-Oberfläche der Figur sensibel gestalteter autobiographischer Hinweis auf Leiko Ikemuras eigene Vita und ihre Situation zwischen Ost und West, die eine Art Heimatlosigkeit mit sich bringt: «Ich bin einfach eine Fremde. Das ist eine Ausnahmeposition, die ich anregend finde und zugleich hart … Du bist nirgendwo zugehörig, hast zugleich eine grosse Sehnsucht danach und siehst darin auch eine Chance, deine Ängste zu überwinden. Was geschieht dann mit der Kunst?» So die Künstlerin in einem Interview mit Roman Bucheli. (NZZ vom 14. Mai 2025)
Nicht nur «Papagei Usagi» ist hohl. Das sind auch andere der menschlichen Figuren, die Leiko Ikemura in Bronze hat giessen lassen, und die sie nachher bemalt hat, zum Beispiel die junge Frau, die auf dem Boden liegt und über die Leiko Ikemura eine Videoaufnahme des glitzernden winterlichen Silsersees ziehen lässt. Die Augen des Mädchens stehen weit offen, als fasse sie die Zukunft ins Auge. «Memento mori» (2013/18.), so der Titel, hat dabei für die Künstlerin, trotz des Titels, wenig mit dem Tod zu tun, sondern eher mit dem Werden neuen Lebens – oder vielleicht besser: mit dem ewigen Kreislauf des Lebens.
Eins fliesst ins andere
Was geschieht mit der Kunst? So fragte die Künstlerin selber im erwähnten Interview. In der Ausstellung in Chur «Das Meer in den Bergen» verbindet Leiko Ikemura ihre Herkunft von Japans Pazifik-Küste mit dem Erleben der europäischen Bergwelt. Dabei lassen Künstlerin und Kurator Damian Jurt das eine ins andere fliessen – analog zu dem, wofür die Figur «Papagei Usagi» steht, und auch analog zur existenziellen Selbsterfahrung der Künstlerin.
Zeichen für diesen Fluss sind auch die Videoinstallationen, welche die harte Struktur der Ausstellungsräume aufweichen, die Ecken runden, die Wände mit Ausbuchtungen versehen und Videoaufnahmen von bestehenden Gemälden der Künstlerin über die Flächen fliessen lassen. Die sanften Bewegungen der Bilder veranlassen die Besucherinnen und Besucher, sich selbst durch die Räume zu bewegen und die Projektionen, die Malereien, die subtilen kleinen Landschaftszeichnungen und die Skulpturen aus stets wechselnder Perspektive, in wechselnden Kombinationen und in zu Beginn opulent, aber unmittelbar darauf wieder sparsam instrumentierten Raumteilen wahrzunehmen.
In Leiko Ikemuras Malereien, zum Beispiel in «Alpenindianer» oder in «Skifahrer am Maloja-See» (1989 und 1990 entstanden) tauchen schemenhaft Menschenfiguren auf. Sie sind kaum zu identifizieren. Es scheint, als hätten sie sich in der Berglandschaft des Engadins, die die Künstlerin von vielen Aufenthalten her kennen- und liebengelernt hat, verflüchtigt, und als seien sie Teil dieser Landschaft geworden. Vielleicht zeigt sich auch da ein autobiographischer Zug in Leiko Ikemuras Kunst, die zum Selbstportrait wird, ohne dass explizit davon die Rede wäre.
Bündner Kunstmuseum Chur, bis 23.11. Katalog 39 Franken.
Leiko Ikemura wurde 1951 in Japan geboren. Sie lebt seit 1972 in Europa und nach längeren Aufenthalten in Spanien (Granada und Sevilla) und in der Schweiz (vor allem in Zürich, 1989 in den Bündner Bergen) mit ihrem Partner, dem Schweizer Architekten Philipp von Matt, in Berlin. Lehrtätigkeit an der Universität der Künste in Berlin und in Japan. Einzelausstellungen u. a. in Museen und Kunsthallen in Bonn, Nürnberg, Melbourne (International Biennial). St. Gallen, Winterthur, Lausanne, Basel, Linz, New York, Berlin und nächstens in der Albertina in Wien und im kommenden Jahr an der Biennale São Paulo. Teilnahme in vielen Gruppenausstellungen.