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Sergei Rachmaninoff

Musik mit Sucht-Potential

23. Mai 2025
Annette Freitag
Andrea Loetscher
Andrea Loetscher, Leiterin der Rachmaninoff-Foundation, mit einer Besuchergruppe (Foto Serge Rachmaninoff-Foundation)

Wer in die Welt des russischen Komponisten Sergei Rachmaninoff eintauchen will, tut dies am besten in dessen Schweizer Refugium.

Die Szene könnte kaum schöner sein: der prächtige Park direkt am Ufer des Vierwaldstättersees, grosse alte Bäume, gleich gegenüber der Bürgenstock, ab und zu ein Schiff, das durchfährt. Und aus der Villa dringen einzelne Pianoklänge und mischen sich im Wind mit Vogelstimmen und Wellengeplätscher.

Hier bereitet sich Francesco Piemontesi, einer der grossen Schweizer Pianisten, auf sein Konzert vor, das er anschliessend vor einem kleinen Kreis von 35 Personen geben wird. Es ist die Villa Senar, die einst dem russischen Komponisten Sergei Rachmaninoff gehört hat und das Klavier ist jenes, auf dem Rachmaninoff damals höchstpersönlich gespielt und komponiert hat. Eine Atmosphäre, wie aus der Zeit gefallen: nicht mehr modern, aber auch nicht antik. Ein magischer Ort, der noch immer aussieht, als wäre der Maestro nur kurz mal rausgegangen, um Luft zu schnappen.

Villa

Vor etwas mehr als 90 Jahren hat sich Rachmaninoff hier niedergelassen, nachdem er zu Beginn des zweiten Weltkrieges zunächst nach Kalifornien geflüchtet und vor allem als Pianist international höchst erfolgreich war. Hier am Vierwaldstättersee fand er schliesslich sein Refugium. Er liess die Villa im Bauhausstil errichten und verbrachte vor allem die Sommermonate hier.

 

Der Flügel … ein bisschen stur …

Der Flügel, auf dem Francesco Piemontesi sich für das Konzert einstimmt, ist noch immer der gleiche, auf dem auch Rachmaninoff gespielt hat. «Ich kenne das Instrument seit der Renovierung vor sechs, sieben Jahren», erzählt Piemontesi. «Ich finde es absolut spannend, darauf zu spielen. Es ist ein Instrument mit viel Persönlichkeit, es hat eine ganz eigene Stimme, sehr gesanglich … und gleichzeitig ein bisschen stur … in dem Sinne, dass der eigene Charakter des Flügels so stark ist, dass es einige Zeit kostet, den Klang in die eigene Richtung zu biegen …» 

Piemontesi

Piemontesi strahlt übers ganze Gesicht, während er erzählt. Er kennt sich aus. «Ich habe einen ganz ähnlichen Flügel zuhause. Er ist ein bisschen neuer als dieser hier, so aus den Sechzigerjahren, und er hat das gleiche Charakteristikum: Er hat eine eigene Stimme und ist nicht so neutral, wie man es sonst von Flügeln kennt. Es ist spannend, hier auf diesem Flügel zu spielen, weil man weiss, dass die Stücke, die man spielt, teilweise hier komponiert wurden. Man sitzt in diesen Wänden und fragt sich, was Rachmaninoff wohl hier gespürt hat …» 

Der Flügel war übrigens ein Geschenk von Frederick Steinway persönlich zum 60. Geburtstag Rachmaninoffs.

Hausherrin bei Rachmaninoff

Inzwischen ist die Villa nach einem längeren Erbschaftsgerangel zwischen verschiedenen Familienmitgliedern Rachmaninoffs im Besitz des Kantons Luzern und steht unter Denkmalschutz. Andrea Loetscher ist jetzt sozusagen Hausherrin hier, sie leitet die Rachmaninoff Foundation und verwaltet damit das kulturelle Erbe Rachmaninoffs. Andrea Loetscher ist Flötistin und besitzt ein Solistendiplom, Konzertdiplom und ein pädagogisches Diplom. Sie spielte in grossen Orchestern im In- und Ausland, leitete Musikschulen, eine Konzertagentur und hat zudem einen MBA in Marketing und Business Development der Universität Basel. «Hier in der Villa Senar kann ich als Musikerin in intendantischer Funktion alles unter einen Hut bringen, was ich gern mache und gelernt habe», sagt sie. «Die Musikschule darf hier ein- und ausgehen, wir hatten schon Uraufführungen mit der Kompositionsklasse von Dieter Ammann, also wir integrieren auch zeitgenössisches Schaffen und freuen uns über Starpianisten, die hier auftreten. Es ist ein unfassbar spannendes Spielfeld mit weltweiter Ausstrahlung und lokaler Verankerung.»

Obwohl Andrea Loetscher selbst Musikerin ist, hat sie sich Rachmaninoff erst relativ spät genähert. «Als Riccardo Chailly am Lucerne Festival Rachmaninoffs 3. Sinfonie aufgeführt hatte, habe ich diese Musik noch nicht verstanden. Ich fand sie eher seltsam. Dann habe ich mich aber Jahre später hier in den Bewerbungsprozess begeben und mich sehr mit der Musik auseinandergesetzt, auch mit der Person, dem Künstler Rachmaninoff, und er wurde mir immer vertrauter. Ich bin froh, dass ich nicht Pianistin bin, denn so kann ich jetzt all seine Werke entdecken. Ich gehe von einer anderen Seite heran und höre die Préludes ganz neu, weil ich sie nicht schon als Kind spielen musste …» So sei auch das Programm, das sie in der Villa Senar anbiete, wesentlich diverser. «Am Anfang mussten wir allerdings erst einmal herausfinden, was ankommt, was funktioniert und was nicht.» Ziel ist es, möglichst viele Zielgruppen zu bedienen, denn es gibt nur 35 Plätze fürs Publikum. «Also machen wir lieber verschiedene Formate, statt nur eins mit einem Starpianisten.» 

Breites Spektrum

So gibt es auch Familienkonzerte und Kinderveranstaltungen. «Die Kinderkonzerte machen wir mit dem Luzerner Sinfonieorchester, ansonsten sind die Partner auch sehr divers und international», sagt Andrea Loetscher und erwähnt das Lucerne Festival, die Oper Zürich, das National Symphony Orchestra Washington und andere. Und es wurde eine App entwickelt, mit der man unter «Rachmaninoff Echoes» die Villa Senar und die ganze Rachmaninoff Foundation erkunden kann. Ausserdem plant Andrea Loetscher im Sommer nächsten Jahres «Senaraden» – und das ist kein Tippfehler, sondern ein Wortspiel, um die «Villa Senar» in die Serenaden einfliessen zu lassen, die im Park stattfinden. «Uns schwebt vor, dass man vom Haus aus spielt – die Villa dient dann sozusagen als Resonanzraum – und dass man mit Picknickdecken draussen sitzen kann. Das wär’ doch superschön. So ein Hauch von Glyndebourne Festival am Vierwaldstättersee!» Angedacht sind auch Bootskonzerte, zu denen das Publikum mit dem Boot anreist. «Wir machen auch Experimente mit verschiedenen Musikstilen», erklärt Andrea Loetscher. «So kommt zum Beispiel der Volksklarinettist Dani Häusler zum ‘Heirassa Festival Weggis’. Die Schnittstelle zwischen Volksmusik und Rachmaninoff zu suchen, ist spannend.»

Man spürt: Hier liegt noch einiges drin, um der Villa Senar wieder Musik einzuhauchen. Und es muss nicht immer nur Rachmaninoff sein. Andrea Loetscher hat durchaus schon Erfahrung, wie man Programme macht, wenn auch gewissermassen aus zweiter Hand … Andrea Loetscher ist mit Michael Haefliger verheiratet, dem langjährigen Intendanten des Lucerne Festivals, der diesen Sommer nach 26 Jahren ein letztes Programm präsentiert. «Ich habe natürlich viel von Michael gelernt», sagt sie. Nur schon so viele berühmte Künstler – und deren Manager! – kennengelernt zu haben, ist eine gute Basis. «Dann haben wir mit Urs Ziswiler auch einen grossartigen Stiftungspräsidenten. Dank ihm ist das Haus heute, wie es ist. Es ist mir wichtig, das auch immer wieder zu betonen. Er ist Diplomat und war ehemaliger Botschafter in Washington, und als Alexander Conus Rachmaninoff, ein Enkel des Komponisten, im Jahr 2000 gestorben ist, hat es verschiedene Erbengemeinschaften gegeben, die sich zum Teil untereinander nicht einmal gekannt haben. Rachmaninoff-Enkel Alexandre Conus hatte am Schluss ein recht ausschweifendes Leben geführt und einen Monat vor seinem Ableben auch noch geheiratet …» Es war also keine Kleinigkeit, Ordnung in den Erbschaftsstreit zu bringen. Dank langjähriger Erfahrung in Sachen Diplomatie ist es Ziswiler allerdings gelungen, die Villa unter Denkmalschutz stellen zu lassen und dem Kanton Luzern damit zu ermöglichen, das Anwesen Ende 2021 zu erwerben. Anfang 2022 begannen die Restaurationsarbeiten und gleichzeitig hat Andrea Loetscher ihre Stelle angetreten. «Der Kanton sorgt für die Parkanlage und den Gebäudeunterhalt. Und wir von der Rachmaninoff Foundation kuratieren das Kulturprogramm, also das geht von der öffentlichen Führung des Seniorenvereins Vitznau bis zum Konzert mit einem Starpianisten», sagt Andrea Loetscher. «Das funktioniert gut, wir müssen kulturunternehmerisch denken. Treffen mit Sponsoren oder mit Förderern ist dabei eine wichtige Arbeit.» Dies vor allem, weil die Rachmaninoff Foundation für das ganze Bildungs- und Kulturprogramm keine Subventionen erhält und nur dank Freunden, Partnern und unternehmerischem Geschick auch Pionierprojekte umsetzen kann.

Rachmaninoff, der Unternehmer

Rachmaninoff war in den Dreissigerjahren einer der bestverdienenden Musiker. «In den USA hat er damals rund 1’600 Konzerte gegeben. So hat er sein Geld verdient», sagt Loetscher. «Er war ein richtiger Unternehmer. Er war der Erste, der richtig gute Verträge abgeschlossen hat. Er hat nie unter seinem Wert gespielt. Er war auch einer der Ersten, der seine Hände versichert hat, weil er wusste: Das ist sein Kapital. Trotzdem gibt es auch Bilder, auf denen er mit seinen kostbaren Händen gärtnert …»

Rachmaninoff

Abgesehen davon, dass es einmal Rachmaninoffs Haus war, hat die Villa auch technische Raffinessen zu bieten. «Hier gibt es einen der ersten Lifte, die Schindler in einem Privathaushalt eingebaut hat. Für nur ein Stockwerk! Aber Rachmaninoff war ein Technik-Freak», erzählt Andrea Loetscher. «Er besass auch ein Motorboot und wollte unbedingt in weniger als 17 Minuten in Luzern sein. Das hat er auch geschafft, es gab damals kaum Tempolimiten. Das Haus besass sogar schon eine Zentralheizung, zu dieser Zeit war das eine Innovation! Schliesslich war Rachmaninoff befreundet mit Thomas Alva Edison, dem Erfinder der Schallplatte, und er war einer der Ersten, der Aufnahmen gemacht hat. Rachmaninoff war geschäftstüchtig und ein Unternehmer. Das motiviert auch uns als Foundation, unternehmerisch zu denken», sagt Andrea Loetscher.

Daneben sei er aber auch ein ausgesprochener Familienmensch gewesen, fährt Loetscher fort. Folglich gibt es auch regelmässig Familienkonzerte in der Villa Senar. Und die Jugendblasmusik Weggis darf im Park Marschierproben machen, bevor sie an einem Umzug teilnimmt. «Die marschieren kreuz und quer herum und bekommen Hotdogs und Kuchen», sagt Loetscher und lacht – auch, weil sie damit die Jugend schon ein bisschen mit Rachmaninoff angefixt hat … Kinderformate gehören jetzt fest zum Programm und die Zweit- und Drittklässler aus Weggis, Vitznau und der Region sind mit Begeisterung dabei.

Vielseitigkeit im Sinne von Rachmaninoff

Interessant auch, wie sich die Beziehung der Flötistin Andrea Loetscher zum Pianisten Rachmaninoff verändert hat, seit sie die Leitung der Foundation übernommen hat. «Für mich ist Rachmaninoff eine Art Mentor geworden und ich bin so eine Art Künstler-Agentin für ihn. Als Pianist hatte er ein riesiges Repertoire von Scarlatti über Bach, Ravel, Debussy, Beethoven bis zu Chopin und mehr … Es gibt fast keinen Komponisten, den er nicht gespielt hätte. Ausser den ‘Futuristen’ und Zwölftonmusik, sowas hat er überhaupt nicht gemocht. Jedenfalls können wir hier im Sinne von Rachmaninoff sehr vielseitige Konzerte programmieren. Auch ohne Kompositionen von Rachmaninoff selbst.»

Freitag

Auf jeden Fall ist die Auseinandersetzung mit Rachmaninoff ein interessanter Lernprozess für Andrea Loetscher geworden. Am Anfang habe sie noch etwas Mühe gehabt, weil es ausschliesslich um Klaviermusik gegangen sei. Die Bläser haben ihr gefehlt, die Orchestrierung … «Jetzt bin ich gezwungen auf die Anschläge und die Intonation der verschiedenen Pianisten zu hören und das ist total spannend. Das habe ich wohl unterschätzt …», sie lacht. Vor allem aber hat sie eines entdeckt: «Rachmaninoffs Musik hat etwas süchtig Machendes, man möchte immer mehr hören. Er hat eine Tonsprache entwickelt, die man sofort erkennt. Und das ist nur wenigen Künstlern gelungen.» 

Und hier in der Villa Senar hat das Publikum die Chance, Rachmaninoff-Stücke von verschiedenen Pianisten auf dem gleichen Original-Instrument interpretiert zu hören, auf dem Rachmaninoff seinerzeit selbst gespielt hat. Eine einmalige Erfahrung, für Pianisten und Publikum gleichermassen.

Auch an diesem Abend geht das Publikum völlig auf im Konzert von Francesco Piemontesi. Er spielt Schubert, Beethoven und natürlich Rachmaninoff. Und jeder hat wohl das Gefühl, den Nachmittag bei Rachmaninoff persönlich verbracht zu haben, und geht beflügelt wieder heim.

https://rachmaninoff.ch/

 

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