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Kino

Miteinander sich selber sein

11. Oktober 2025
Michael Lang
Paula Beer
Paula Beer (Foto Hans Fromm)

«Miroirs No. 3» ist ein glänzend besetztes Opus des deutschen Filmpoeten Christian Petzold. Es handelt von zwei Frauen, die sich nach persönlichen Schicksalsschlägen auf dramatische Art begegnen. Und neu aufstellen.

Eine Flussbrücke. Verkehrslärm, vorbeifahrende Autos. Eine junge Frau hält sich wie hilfesuchend am Geländer fest. Sie wirkt unwohl. Dann steht sie unten, am Ufer. Da taucht ein Stand-up-Paddler auf und gleitet vorbei. Die Frau fixiert ihn, ihr Gesichtsausdruck ist wie versteinert. Sie heisst Laura, ist Musikstudentin in Berlin, angehende Pianistin. Verkörpert wird sie von Paula Beer, der Protagonistin in «Miroirs No. 3», dem eindringlichen, auf starke Frauenfiguren fokussierenden neuen Filmdrama von Christian Petzold. 

Lauras Befindlichkeit wirkt überzeugend beunruhigend, obwohl die Gründe dafür noch unbekannt sind. Was in einem Opus des aktuell wohl renommiertesten deutschen Filmpoeten mit internationaler Strahlkraft nicht erstaunt. In einem Interview sagt er: «Das, was wir nicht sehen, ist das Kino, das ist Vorstellung, Imagination.» Immer erstaunlich, wie es Petzold gelingt, das Publikum mit wenigen skizzenhaften Bildern anzuregen, den sprichwörtlichen «Kino-im-Kopf-Mechanismus» in Gang zu setzen. Und erst nachher den Plot filmsprachlich zu vermitteln; das ist eine von Petzolds verblüffenden schöpferischen Qualitäten – neben vielen anderen.

Dieser Künstler befasst sich gerne mit unauffälligen Menschen ohne Eigenschaften, denen man im Alltäglichen zufällig begegnen könnte. Um dann ihre psychischen Konflikte, Abspaltungshandlungen oder verdrängende Übersprungaktionen sichtbar zu machen. Und seine Erzählung in eine lichtere, heilsame Richtung zu lotsen: Christian Petzold ist kein zynischer Schwarzmaler, sondern ein genauer Analytiker seiner Charaktere, die er bis in die Nebenrollen hinein mit stupender Genauigkeit ausstattet. Impulse dafür schöpft er aus seinem immensen intellektuellen Fundus mit literarischen und philosophischen Versatzstücken, die er filmmedial präzise und mit Esprit in Szenen, Dialoge, eine raffinierte Ablaufdramaturgie transponiert. 

Wasser, Feuer, Luft

Was dabei herauskommt, mutet auf den ersten Blick nicht immer plausibel an, ist aber stets mehr als geschmäcklerische Gestaltungs-Handschrift. Und es fügt sich final zu einem soliden Ganzen zusammen. Wie jetzt in «Miroirs No. 3», dem Abschluss einer Trilogie, die Petzold mit «Undine» (2020) begonnen und mit «Roter Himmel» (2023) magistral weitergesponnen hat. Es geht im freien Sinn um die deutsche Romantik mit Motiven der sogenannten Elementargeister. Die zwei ersten Folgen waren dem Wasser und Feuer, die dritte ist der Luft gewidmet.

«Miroirs No. 3» nimmt im Wortsinn Fahrt auf, als Laura mit ihrem Partner und einem anderen Paar in dessen schickem roten Cabriolet ins Berliner Umland, die brandenburgische Uckermark, aufbricht. Die Smalltalk-Stimmung gaukelt Lockerheit vor, aber Laura ist anzusehen, dass etwas nicht stimmt, Spannung in der Luft liegt. Et voilà: Bei einem Zwischenstopp bleibt sie wie im Abseits stehen und erklärt dann, dass sie ihre Tasche verloren habe und sofort nach Hause wolle. Die vier beschliessen, dass Lauras Freund sie zum nächsten Bahnhof fahren und dann zurückkommen soll. 

Paula Beer
Paula Beer (Foto Christian Schulz)

Während der etwas zu schnellen Fahrt auf einer schmalen, holprigen Landstrasse deckt der aufgebrachte, unkonzentrierte Freund Laura mit Vorwürfen ein. Nur mit einer Vollbremsung vermeidet er die Kollision mit einer Frau fortgeschrittenen Alters. Und man erinnert sich, dass es dieselbe Person ist, die bei der Hinfahrt des Grüppchens vor ihrem Haus stehend kurz zu sehen war und mit Laura Blickkontakt hatte. Sie heisst Betty und erlangt in «Miroirs No. 3» in der Folge eine zentrale Bedeutung.

Typische Petzold-Szene

Nach dem Beinahe-Crash rast das Cabrio weiter. Kurz darauf sind ein dumpfer Aufprall und aufgeregte Vogelschreie zu hören. Betty eilt in Richtung des entschwundenen Fahrzeugs, findet ein auf die Seite gekipptes Wrack, sieht den leblosen Fahrer. Laura liegt etwas weiter weg, im Feld. Sie bewegt sich, scheint nur leicht verletzt zu sein. Ohne zu zögern, führt Betty sie zu ihrem Haus. 

Als die Sanität und die Polizei vor Ort sind, sagt der Notarzt zu Betty, Laura habe ihm gesagt, sie wolle bei ihr bleiben, obwohl sie sich nicht kennen würden. Betty willigt ein, auch weil medizinisch gesehen nichts dagegenspricht; wieder eine unerwartete, ungewöhnliche, doch typische Petzold-Szene!

Betty kümmert sich fürsorglich um Laura, die sich erschöpft schlafen legt. Am nächsten Tag dauert es nicht lange, bis Bettys Ehemann Richard und der gemeinsame Sohn Max auftauchen. Die zwei nächtigen, von einem Schicksalsschlag um ihre Schwester und Tochter traumatisiert, in ihrer Autowerkstatt. Sie wollen sich aber in ihrem eigentlichen Wohnhaus ein Bild von der aktuellen Lage machen. Die Stimmung dort ist erstaunlicherweise gelöster als erwartet. Laura bringt sich bereits in die kleine Gemeinschaft ein, hilft beim Kochen, interessiert sich für Bettys Kräutergarten.

Bald besucht sie die Männer in ihrer Werkstatt. Richard und Max kümmern sich nicht nur um Autos, sondern um alles, was es zu reparieren gibt. Vom defekten Lenker für Lauras Leihvelo bis hin zum kaputten Küchengerät. Ihr Arbeitseifer hat etwas Manisches und erweckt den Anschein, man wolle damit das Nachdenken über die «Reparatur» des eigenen Seelenfriedens hinauszögern. 

Virtuoses Quartett

Christian Petzolds Idee zu «Miroirs No. 3» reifte übrigens bei den Dreharbeiten des Vorgängerfilms «Roter Himmel» (siehe Journal21-Kritik https://www.journal21.ch/artikel/roter-himmel) mit vertiefenden Diskussionen mit der Filmcrew. So ist gut nachvollziehbar, dass in «Miroirs No. 3» drei Stars wieder mit dabei sind: als Laura die hinreissend disponierte Paula Beer – sie gilt als Petzolds künstlerische Muse –, dann der wandlungsfähige Bühnen- und Filmakteur Matthias Brandt als introvertierter Vater Richard und Enno Trebs als bodenständiger, lebensunerfahrener Sohn Max.

Brandt, Trebs
Matthias Brandt und Enno Trebs (Foto Christian Schulz)

Neu dabei ist Barbara Auer als Betty, die sich als wie von einer magnetisierenden Innerlichkeit umflorte Leitfigur etabliert. Sie zeigt sich von der dramatisch begründeten Begegnung mit der neuen Hausgenossin beflügelt, ihrer von Schuldgefühlen gebeutelten Kleinfamilie wieder Bodenhaftung zu verschaffen. Die vier Hauptpersonen bilden ein virtuoses Quartett. 

Auer, Beer
Barbara Auer und Paula Beer (Foto Hans Fromm)

Christian Petzold weiss seinem anspruchs- und erwartungsvollen Publikum komplexe, bisweilen um die Ecke angedachte Tragik-Szenarien ganz ohne aufgesetzte Gefühlsduseleien zu vermitteln. Fast zwanzig Filme hat er seit einem Vierteljahrhundert bereits realisiert. Er steht im Ruf, ein Teamplayer zu sein, der vor und hinter der Kamera den Support eines mit ihm vertrauten, loyal solidarischen Mitarbeiterstabs wertschätzt.

Musik als Türöffner

Der Filmtitel «Miroirs No. 3» verweist auf Maurice Ravels gleichnamiges Klavierstück, das die symbolträchtige Zusatzbezeichnung «Une Barque sur l'océan» trägt – das Filmdrama handelt ja im Kern von Menschen, die im von Schicksalswellen umtosten, erschütterten Leben einen rettenden Hort herbeisehnen.

Die feine Klavier-Melodie wird mehrmals angespielt. Zum Beispiel, wenn das verwaist im Haus herumstehende Piano überraschend von einem Fachmann neu gestimmt wird und die Hausleute Laura bitten, ihnen etwas vorzutragen. Laura willigt ein. Die nun folgende, komprimierte, atmosphärisch dichte Szene zeugt davon, dass diese vier Versehrten versuchen, zueinander zu finden – wenngleich die latent über allem schwebende, angsterfüllte Verunsicherung anhält. 

Betty und Richard versuchen vorsichtig, sich wieder anzunähern, beobachten jedoch genau, wie sich das Verhältnis zwischen Sohn Max und Laura entwickelt. Deren Umgang hat anfangs eine joviale Note. In der Werkstatt hören die beiden bei einem Bier Poprock-Sounds, tauschen sich sogar über nicht ganz legale, aber lukrative Deals im Auto-Geschäft aus. Doch vom Moment an, wo sich mehr vertrauensvolle Nähe anbahnt, wird klar, wie fragil, ja brüchig die Befindlichkeit beider ist. Als einmal ganz Persönliches erwähnt wird, verlieren Max und Laura die Contenance. Die Folge ist ein schockartiger, radikaler Handlungsschnitt. Nun stellt sich die Frage, wohin einem der begnadete, unkonventionelle Geschichtenerzähler Christian Petzold noch führen wird.

Aufschluss gibt der Epilog nach einem Zeitsprung, der von herber Schalkhaftigkeit durchwirkt, klug, sensibel choreographiert ist. Noch einmal steht Maurice Ravels Klavier-Delikatesse «Miroirs No. 3 – Une Barque sur l'océan» mit im Zentrum des Geschehens. Musik also, die bei Petzold nie schwülstig, überreizt eingesetzt wird, sondern sensitiv integriert in den szenischen Ablauf – wie ein zusätzlicher Türöffner, der seine Botschaft herznah akzentuiert. 

Im aktuellen Fall erhofft man sich ein seelenverwandtes Bündnis zwischen dem Trio Betty, Richard, Max und der solitären Laura. Hoffen ist berechtigt, weil Christian Petzold, dem Empathischen zugewandt, filmkreative Ideen hat, was Linderung vom lähmenden Daseinsschmerz möglich machen könnte: Miteinander Mut schöpfen, um sich selber zu sein. 

Kinos und Spielzeiten: https://www.movies.ch/fr/film/miroirsno3/

Trailer: https://youtu.be/59H4V9N5IYw

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