
Nach ersten Dementis räumt die israelische Armee (IDF) ein, dass «operationelles Missverständnis« und «professionelles Versagen» unlängst zur Tötung von 15 Rettungskräften in Gaza geführt haben. Doch Schlüsselfragen lässt ihr Bericht offen. Derweil protestieren in Tel Aviv mutige Israelinnen.
Ein Bericht der israelischen Menschenrechtsorganisation Yesh Din ist vor kurzem zum Schluss gekommen, dass der Staat Israel keine angemessenen Massnahmen getroffen hat, um mögliche Verletzungen von Menschenrechten zu untersuchen, die unter Umständen Bestandteil des Krieges in Gaza gewesen sind. Doch im vorliegenden Fall wurde der internationale Druck wohl zu gross und zwang die IDF dazu, ausnahmsweise zu erklären, wie es am 23. März im Süden Gazas zur Tötung von acht Sanitätern des Roten Halbmonds, sechs Zivilschützern und einem Uno-Mitarbeiter kommen konnte. (https://www.journal21.ch/artikel/die-schleusentore-des-grauens)
Die Getöteten wurden in der Folge in einem Massengrab bestattet, das erst eine Woche später entdeckt wurde, und ihre Fahrzeuge von Bulldozern im Sand vergraben. Was Kritiker der Militäroperation als mögliches Indiz für die Vertuschung eines Kriegsverbrechens sahen.
Kein Strafverfahren
Nach anfänglich ungenügenden und durch Bild- und Tondokumente widerlegten Erklärungen hat die israelische Armee nun an Ostern mitgeteilt, eine Untersuchung habe «mehrere professionelle Fehler, Befehlsmissachtungen und ein Versäumnis, vollständig über den Vorfall zu berichten» ergeben. Als Folge davon, so die IDF, seien der stellvertretende Kommandant der Golani Brigade wegen «eines ungenauen Rapports» seiner Funktion als Feldkommandant enthoben und ein zweiter Kommandant wegen seiner «Gesamtverantwortung für den Vorfall» gerügt worden.
Der Bericht fordert kein Strafverfahren gegen die involvierten Elite-Einheiten und stellt auch keine Verletzung des Ethikcodes der Armee fest. «Es ist ein weiteres Beispiel für die fast vollständige Straffreiheit, die Soldaten für Vorfälle in Gaza eingeräumt wird», sagt Yesh Dins Direktor Ziv Stahl: «Indem man diese kleine Disziplinarmassnahme gegen einen Kommandanten trifft, sabotiert man jegliche Aussicht auf ein umfassenderes Strafverfahren.»
«Eine Fehlerkaskade»
In seinem Pressebriefing an Ostern beschrieb der zuständige IDF-Ermittler eine Fehlerkaskade, die vor dem Morgengrauen begann, als eine Aufklärungseinheit der Golani Brigade einen Krankenwagen für ein Fahrzeug der Hamas-Polizei hielt. Nach einem ersten Zwischenfall, bei dem zwei palästinensische Sanitäter getötet und ein dritter festgenommen wurde, habe der Feldkommandant geglaubt, Kräfte der Hamas vor sich zu haben. Der Festgenommene befindet sich nach wie vor unerreichbar in israelischer Haft.
Als eine zweite Welle von Rettungsfahrzeugen eintraf, um der ersten Ambulanz zu helfen, habe der Offizier aus 30 Metern Entfernung das Feuer eröffnet im Glauben, deren Insassen seien eine Verstärkung der Hamas. Und als wenige Minuten später ein Pick-up der Uno vorfuhr, habe der Kommandant erneut geschossen, obwohl seine Einheit inzwischen realisiert hatte, dass sie unbewaffnete Sanitäter getötet hatte. Der Ermittler nannte «schlechte Nachtsicht» als einen möglichen Grund für den Irrtum, was Militärexperten angesichts von Nachtsichtgeräten für wenig wahrscheinlich halten.
Äusserung des Bedauerns
«Die Kräfte agierten unter dem starken Eindruck, mit einer unmittelbaren Gefahr konfrontiert zu sein; das war ihre Haltung», sagte der IDF-Ermittler und nannte den Vorfall ein «operationelles Missverständnis». Er äusserte Bedauern, dass die Armee unbeteiligten Zivilisten «Schaden zugefügt» habe. Derweil bezeichnete Israels rechtsextremer Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir den Entscheid der Armeeführung, den zuständigen Kommandanten zu entlassen, als «gravierenden Fehler».
«Der Bericht ist voller Lügen», weist der Palästinensische Rote Halbmond den Untersuchungsbericht der IDF zurück: «Er ist ungültig und inakzeptabel, weil er die Tötungen rechtfertigt und die Verantwortung dafür einem persönlichen Fehler innerhalb des Kommandos zuschreibt, während die Wahrheit eine ganz andere ist.» Auch Menschenrechtsanwälte halten den Bericht für fragwürdig, weil die israelische Armee den Vorfall selber untersucht habe und es ihr dabei wohl an Unabhängigkeit mangle.
«Vage Formulierungen»
«Breaking the Silence», eine Organisation von IDF-Veteranen, die dem Krieg in Gaza kritisch gegenübersteht, beschreibt die Untersuchung der IDF als «mit Widersprüchen gespickt, mit vagen Formulierungen und herausgepickten Einzelheiten». So behauptet der Bericht ohne nähere Belege, sechs der 15 getöteten Rettungskräfte seien Kämpfer der Hamas gewesen, was der Rote Halbmond entschieden dementiert. Auf jeden Fall war kein einziger der 15 Getöteten bewaffnet und alle trugen sie klar sichtbar Uniformen von Rettungskräften mit reflektierenden Streifen.
Offen bleibt ferner, wie genau und aus welcher Distanz die Soldaten der IDF die 15 Rettungskräfte in Gaza getötet haben. Einem Bericht der «New York Times» zufolge, der sich auf Aussagen eines palästinensischen und eines norwegischen Gerichtsmediziners stützt, wiesen elf der 15 Leichen meist mehrere Schusswunden auf. In mindestens sechs Fällen stellten sie Schüsse in Brust oder Rücken und in vier Fällen Schüsse in den Kopf fest.
«Zu viele tote Zivilisten»
Drei weitere Tote hatten Wunden in Brust und Bauch, die sich mutmasslich auf Schrapnell unbekannter Herkunft zurückführen lassen. Mehreren Leichen fehlten Arme, Beine oder andere Körperteile. Angesichts des Zustands der Leichen liess sich den beiden Forensikern zufolge aber nicht mehr feststellen, ob sie aus der Nähe oder aus der Distanz erschossen worden waren. Unklar blieb auch, ob einzelne Opfer vor ihrem Tod gefesselt worden waren.
«Zu viele Zivilisten, einschliesslich Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, sind in Gaza getötet worden», sagt Jonathan Whittall, der als Leiter die humanitären Bemühungen der Uno im Küstenstreifen koordiniert: «Nicht alle ihre Geschichten aber machen Schlagzeilen.»
«Opfern ein Gesicht geben»
Derweil hat in Tel Aviv eine unerschrockene Gruppe israelischer Frauen aktiv gegen den Krieg in Gaza zu protestieren begonnen. Ihnen genügte es nicht mehr, nach Israels Bruch der Waffenruhe im März allein die Rückkehr der Geiseln der Hamas zu fordern. Auslöser waren Israels erneute Luftangriffe auf Gaza am 18. März, die der Unicef zufolge mindestens 130 Kinder töteten. Ende Monat waren es 322 tote und mehr als 600 verwundete Kinder.
Der 36-jährigen Aktivistin Alma Beck fielen diese Zahlen auf und sie begann, auf Instagram Bilder der Opfer zu posten. «Wir wollten den Menschen, die für viele Israelis nur Zahlen sind, ein Gesicht geben», sagt die 30-jährige Anwältin Amit Shilo, «und sie dazu ermutigen, ihre Empathie über das israelische Kollektiv hinaus auszudehnen.» Die 59-jährige Psychologin Adi Argov indes betreibt eine Website, die palästinensische Opfer in Gaza und im Westjordanland auflistet.
«Ein Krieg der Verneinung»
Die Frauengruppe ist Teil einer wachsenden Bewegung, die sich Anfang April zu bilden begann, als Tausende Israelis – Veteranen, Reservisten, Geheimagenten, Offiziere, Akademiker und Ex-Diplomaten – die Regierung unter Benjamin Netanjahu in Briefen aufforderten, den Krieg in Gaza zu beenden: «Dieser Krieg ist ein Krieg der Verneinung», sagt Adi Argov: «Aber eines Tages werden die Leute realisieren müssen, was wir – die Kinder von Holocaust-Überlebenden – getan haben, und uns selbst ins Gesicht sehen.»