
Diego Giacometti wurde lange vor allem als Gehilfe seines berühmteren Bruders Alberto rezipiert, der an den Güssen Albertos beteiligt war. Eine Retrospektive im Bündner Kunstmuseum in Chur zeigt: Er schuf ein eigenständiges künstlerisches Werk, das weit mehr als Möbel-Design ist.
So will es die Geschichtsschreibung: Alberto war der geniale Bildhauer des 20. Jahrhunderts. Er schuf vorerst dem Surrealismus nahestehende Skulpturen und in der Nachkriegszeit, zur Zeit des französischen Existenzialismus, die schlank aufragenden Figuren von ikonischem Charakter. Und da ist, in seinem Schatten, sein etwas jüngerer Bruder und Gehilfe, zuständig für die technischen Belange der komplizierten Bronzegüsse Albertos. Das stimmt wohl, ist zugleich aber die halbe Wahrheit, wie schon der Auftakt der Churer Retrospektive Diego Giacomettis im Untergeschoss des Erweiterungsbaus des Museums deutlich macht.
Spuren von Albertos Skulpturen
An der Wand hängt ein Grossfoto Diegos in seinem Pariser Atelier, sichtlich von ähnlichem Bergler-Aussehen wie Alberto. Von der Decke hängen Modelle der grossen Leuchter, die Diego für das Treppenhaus des Mitte der 1980er Jahre eröffneten Musée Picasso in Paris schuf. Die filigranen Gebilde, die wie grosse Vogelkäfige aussehen, sind aus mit Gips überzogenem Eisen. Sie sind voller Spuren handwerklich-sinnlicher Bearbeitung und besetzt mit Vögeln und Blattwerk und maskenhaften Gesichtern, die an Ägyptisches oder Etruskisches gemahnen und für die Interessen Diegos für deren Kunst stehen. Manches erinnert an die Skulpturen Albertos, etwa die Spuren der tief und energisch in den Gips hineingreifenden Künstlerhände, doch es sind eigenständige künstlerische Arbeiten, die – um nur eine Qualität herauszuheben – eine enge Naturbeziehung des im Bergell im Kreis der bäuerlich geprägten Familie aufgewachsenen Künstlers bezeugen.
Vaclav Pozarek’’’s Inszenierung
Ein Teil der Diego-Retrospektive zeigt das Museum im Untergeschoss des Erweiterungsbaus, einen anderen Teil in der Villa Planta, die einst ein Palazzo-ähnliches Wohnhaus war und wichtige Teile der hauseigenen Sammlung beherbergt – darunter Werke von Giovanni, dem Vater Albertos und Diegos, von Augusto, dem entfernten Onkel, und von Alberto Giacometti. So legt das Museum einen Akzent der Ausstellung auf den Aspekt der ganzen Giacometti-Familie und den Ursprung ihrer erstaunlichen künstlerischen Kreativität im Bergeller Bergtal und damit weitab der Kunst-Zentren.
Diese Integration des Diego-Werkes in die Kunst der Familie geschieht ohne ideologischen Hintergrund. Wohl wurde bisher das Werk Diegos als «Gebrauchskunst» und als Design und kaum als Kunst gesehen. Es wurde als eines Kunstkontextes im Kunstmuseum nicht würdig erachtet. Andererseits verfügt gerade das Churer Kunstmuseum als wohl einzige Schweizer Institution der bildenden (und nicht der angewandten) Kunst in seiner Sammlung über eine Objektgruppe Diegos. Es praktiziert dieses Überspringen der Grenze – hier Kunst, dort Design – schon seit einiger Zeit mit lockerer Selbstverständlichkeit und ohne theoretischen Überbau.
Damit Diegos Werk in der Sammlungspräsentation fürs Publikum aber klar identifizierbar bleibt, lud Stephan Kunz, der Künstlerische Museumsdirektor und (zusammen mit Casimiro Di Crescenzo) Kurator der Ausstellung, den in Bern lebenden, aus der Tschechoslowakei stammenden Bildhauer Vaclav Pozarek (*1940) ein, die Werke Diegos in den Räumen des Erweiterungsbaus und der Villa Planta zu inszenieren. Pozarek gibt den Werken Diego Giacomettis in ihrer Formensprache klare und einfache Sockel und Vitrinen aus Holz und wählt eine lichte hellblaue Einheitsfarbe. Das mag auf den ersten Blick überraschen und auch irritieren, unterstreicht aber die Eigenständigkeit der Werke, stellt eine deutliche erkennbare Verbindung zwischen den Präsentationen im Erweiterungsbau und in der Villa Planta her und lockert auf heitere Weise die Museumsatmosphäre Art auf.
Blick auf ein Lebenswerk
Diego Giacomettis Lebenswerk wurde wohl nie in dieser Breite öffentlich – und vor allem nicht im Kunstkontext – gezeigt. Dafür ist das Kunstmuseum in Chur wegen der ausgedehnten Präsenz der Familie Giacometti in der eigenen Sammlung denn auch der richtige Ort. Die Ausstellung setzt ein mit frühen und nicht von einer Funktion bestimmten Werken Diegos – zum Beispiel mit dem in Serpentin gehauenen Kopf einer Löwin (1935). In den hohen hellblauen Vitrinen Pozareks sind in mehreren Etagen Materialien aus Diegos Atelier zu sehen, die als florale Motive oder Tiere wie Eulen und Hirsche für die Ausgestaltung des Mobiliars Verwendung fanden oder die in den Bereich freier künstlerischer Übungen gehören wie «Le chat maître d’hôtel» oder ein kleines bronzenes Figurenpaar. Häufig widmete Diego sich Tieren wie den bereits erwähnten Eulen und anderen Vögeln, Pferden, Fröschen Füchsen oder Löwinnen, deren langgestreckte Körper als Möbelgriffe dienen mochten.
Sein Formenrepertoire erweist sich insgesamt als sehr breit und vielfältig. Ein eigentliches Glanzstück ist ein Vogel Strauss: Ein Straussenei bildet seinen Körper, den ein Gerüst aus Bronze als eine Art Rahmen Haltung gibt. Das Objekt bezeugt Diego Giacomettis Kontakte mit dem Kreis der Surrealisten. In der Ausstellung finden sich auch Objekte mit starkem familiärem Bezug wie zum Beispiel ein Geschenk Diegos zum 50. Geburtstag Albertos oder das Modell für dessen Grabplatte in Borgonovo. Die Arbeiten sind selten datiert. Das geht nicht auf eine Nachlässigkeit der Kuratoren zurück, sondern des Künstlers selber, der wenig Sinn für Archivarbeit hatte und auf Dokumentation wenig Wert legte.
Als Hauptwerke erweisen sich allerdings die Möbel, die der Künstler stets mit Elementen ausschmückt, die über das rein Dekorative hinausweisen. Neben Salontischen und Sesseln verschiedener Art sind es vor allem seine Konsolen aus Glas und Bronze. Ihnen kommt fraglos ein eigener künstlerischer Wert zu – ob es sich um die «Promenade des Amis» handelt, um «L’arbre de vie» oder um die das Gemälde «Toteninsel» paraphrasierende Konsole «Hommage à Böcklin» (um 1978). Dazu gesellt sich – und da lässt wiederum Surrealistisches grüssen – wie Vogel Strauss, ein Möbelstück mit dem Titel «Tisch in Form eines Gerippes». Dieser und ähnlicher Werke Diego Giacomettis hat sich der internationale Hochpreis-Kunsthandel längst bemächtigt.
Bündner Kunstmuseum Chur. Bis 9. November. Die Ausstellung wurde kuratiert von Stephan Kunz, Künstlerischer Direktor des Kunstmuseums Chur, und Casimiro Di Crescenzo, Kunsthistoriker und Giacometti-Forscher, Venedig. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Musée des Arts décoratifs in Paris, wo sich der Nachlass Diego Giacomettis befindet. Katalog, herausgegeben von den Kuratoren, CHF 49.00
Diego Giacometti
Diego Giacometti wurde 1902, nur 13 Monate nach seinem Bruder Alberto, im Bergell geboren, besuchte die Mittelschule in Schiers, die er ohne Abschluss abbrach, und zog 1925 zu seinem Bruder Alberto nach Paris, wo er, wie auch Alberto Giacometti, Schüler von Antoine Bourdelle war, der an der Académie de la Grande Chaumière in Paris unterrichtete. Reise nach Ägypten, die sein Interesse an der Tierskulptur förderte. Er arbeitete als helfende Kraft für Alberto, wickelte die komplizierten Bronze-Güsse, hütete Albertos Atelier während der deutschen Besetzung von Paris und blieb auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Assistent Albertos in Paris.
Nach dem Tod Albertos (1966) schuf er zahlreiche Möbel – etwa für die Kronenhalle-Bar in Zürich, für die Fondation Maeght in Saint-Paul de Vence und für das Musée Picasso in Paris (sein letzter und wichtigster Auftrag). Auch das Kunstmuseum Chur besitzt eine Reihe von Diego Giacomettis Möbel-Skulpturen. Daneben entstanden auch eigenständige Kunstwerke, denen aber bisher in Ausstellungen selten zu begegnen waren. Diego Giacometti starb 1985 in Paris. Er ist auf dem Friedhof bei der Kirche von Borgonovo im Bergell begraben, wo sich auch die Gräber seiner Eltern und Geschwister befinden. Diego Giacometti war nicht verheiratet und hinterliess keine direkten Erben.