Zunächst muss klargestellt werden, dass genau genommen nicht der Begriff „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gekürt worden ist. Vielmehr haben die Redaktionen der „Oxford Dictionaries“ im November dem angelsächsischen „post-truth“ zu dieser (zweifelhaften) Ehre verholfen. „Postfaktisch“ ist nur die deutschsprachige Übersetzung des englischen Siegeswortes (obwohl „postfaktisch“ auch nicht gerade als urdeutsche Vokabel gelten kann).
Im Kielwasser von Trump und Brexit
Dass die steile Karriere von „postfaktisch“ (oder post-truth) sehr viel mit dem noch phänomenaleren Senkrechtaufstieg von Donald Trump in Amerika und dem fast ebenso stupenden Brexit-Entscheid in Grossbritannien zu tun hat, liegt auf der Hand. Gemäss Verlautbarung der Oxford Dictionaries hat sich der Gebrauch des Wortes „post-truth“ 2016 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als das 20fache erhöht.
Bei allem Respekt vor solchen Erfolgsgeschichten lässt sich doch ein unbehagliches Gefühl gegenüber dem Vorwärtssturm der Vokabel „postfaktisch“ nicht verneinen. Zum einen besteht bei der Verwendung die Tendenz, dem Tatbestand der Lüge oder der Unwahrheit eine Art höhere Weihe zu verleihen.
Wenn Trump im Zusammenhang mit dem Ergebnis der Präsidentschaftswahl unverfroren von einem „landslide victory“ (Erdrutschsieg) spricht, ist das nicht bloss ein postfaktisches Statement, sondern eine blanke Lüge. In Wirklichkeit hat er als Wahlsieger eines der schlechtesten Ergebnisse erzielt: Beim Total der Volksstimmen bekam er 2,8 Millionen Stimmen weniger als seine Konkurrentin Hillary Clinton.
Ebenso lügenhaft ist Trumps Behauptung, er könne seine Steuererklärung nicht veröffentlichen, weil in Sachen Steuern immer noch ein „audit“ (Untersuchung) gegen ihn laufe. Die Steuerbehörde hat klipp und klar erklärt, dass ein solcher Audit-Prozess die Veröffentlichung von Steuererklärung keineswegs ausschliesse.
Ein „faktisches“ Zeitalter gab es nie
Es schadet aber der sprachlichen Klarheit, wenn grobe Unwahrheiten von Politikern nicht mehr rundheraus als Lügen benannt werden, sondern verharmlosend der nebulösen Kategorie des „postfaktischen Sprachgebrauchs“ zugeordnet werden. Bei einigen Zeitgenossen scheint im Begriff „postfaktisch“ inzwischen sogar ein Beigeschmack von „cool“ oder „clever“ mitzuschwingen. Dieser Tendenz sollte man sich energisch entgegenstemmen.
Noch ein weiteres Argument spricht gegen die Verwendung des Modeworts „postfaktisch“. Es suggeriert, worauf unlängst in der NZZ hingewiesen wurde, dass es vor dem postfaktischen Trend so etwas wie ein faktisches Zeitalter gegeben habe. Das ist natürlich eine naive Vorstellung. Mit Lügen, Unwahrheiten und demagogischen Verdrehungen ist von skrupellosen Volksverführern in allen Zeiten operiert worden. In dieser Hinsicht waren die Zustände im alten Athen oder Rom, zur Zeit der amerikanischen Gründerväter oder im Zürich Gottfried Kellers wahrscheinlich kaum besser als in Zeiten von Trump und Putin. Besser war damals allerdings, dass der vernebelnde Begriff „postfaktisch“ noch nicht im Schwange war.