Hundertvierzig Zeichen kann ein Twitter-Post höchstens haben. Erfahrene Zwitscherer schöpfen diese Limite nicht ganz aus, damit bei einem Retweet – das ist das Weitersenden der Nachricht durch einen Follower – auch die automatisch vorangestellte Twitteradresse (@sowieso) des Autors samt Leerschlag Platz findet. Zwänge stacheln bekanntlich die Kreativität an. Haiku und Sonett, Fuge und Kanon, Holzschnitt und Aquarell setzen der sprachlichen, musikalischen oder bildnerischen Äusserung formale und technische Begrenzungen. Trotzdem engen sie nicht ein, sondern sind potente Ausdrucksmittel, quasi kreativ aufgeladen vom Schaffen vieler. Nicht anders wirkt der Zwang zur Kürze bei Twitter.
Tweets sind so vielfältig, wie es jegliche schriftliche Kommunikation ist. Jeder Nutzer bestimmt Qualität und Zusammensetzung seiner Timeline selbst durch seine Wahl der Twitterer, denen er folgt. Da sind zum einen die Verbreiter von sachlichen Mitteilungen und Hinweisen auf Informationen. Jede Twitter-Quelle hat ein erkennbares Profil, sei es durch Themen, Interessen, Sensibilität, Meinungen, Haltung, Stil. Die jeweils ein, zwei Sätze genügen, um schon nach kurzer Beobachtung Konturen einer Person kenntlich zu machen. Inhalte, Sprachniveau, Anspielungen und Akzentuierungen der Mini-Nachrichten transportieren nebst nackten Fakten ganze Wolken von Bedeutungen. Ein Beispiel:
Deutsche Autojournalisten erwarten Business mit der LH und 4 Sterne plus, sonst sagen sie, Daimler geht es schlecht. Jörg Howe #kk13
Der Hashtag #kk13 verweist auf den Zusammenhang eines eben stattfindenden Kommunikationskongresses. Der Twitterer paraphrasiert gerade das Referat von Jörg Howe, dem – wie man nach zwei Klicks weiss – Leiter der globalen Kommunikation der Daimler AG. Diese Einbettung macht den Tweet brisant: Damilers Kommunikationschef bezichtigt deutsche Autojournalisten der Korruption und beklagt öffentlich, dass er mitspielen muss. Diese Story hat der PR-Fachmann und Kongressteilnehmer Björn Sievers – er twittert als bjoern – kunstgerecht in 132 Zeichen gefasst.
Eine andere Art der Verdichtung zeigen die poetischen, spielerischen Tweets, die sprachlichen Schnappschüsse und Gedankensplitter. Folgt man den oft zufällig entdeckten Talenten, so werden Works in progress sichtbar, manchmal gar literarische und persönliche Entwicklungen. Die Schriftstellerin Ute Weber (Twittername UteWeber) hat kürzlich folgende Botschaft in den Cyberspace entlassen:
Ich tätowiere Papier. Es ist wichtig, dass die Worte in die unteren Papierschichten eindringen. So halten sie ein Leben lang.
Mit diesem Tweet ist ihr ein wunderbares Bild poetischer Spracharbeit gelungen, das keiner Erklärung bedarf. 125 Zeichen hat sie dafür gebraucht – und wer weiss wie viele Stunden.