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Stuttgart 21

Konflikt im Schwabenland

1. Oktober 2010
Stephan Wehowsky
In der Nacht zum Freitag ist der Konflikt um den Bau des unterirdischen Stuttgarter Hauptbahnshofs weiter eskaliert. Auf Seiten der Demonstranten und der Polizei gab es zahlreiche Verletzte. Volkswille und Prinzipien des Rechtsstaates geraten immer mehr in einen Gegensatz.

Die Planungen für die Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs in den Untergrund reichen bis in die 80er Jahre zurück. Schon lange haben sich die Verantwortlichen daran gestört, dass Stuttgart nur einen sogenannten Sackbahnhof hat, der für erhebliche Verzögerungen im überregionalen Schienenverkehr sorgt. Das gilt insbesondere für die transeuropäischen Netze unter dem Stichwort „Magistrale für Europa“. Im Jahr 1994 wurde das Projekt der Öffentlichkeit vorgestellt. Gemäss der Budgetierung von 2009 soll es 4, 1 Milliarden Euro kosten.

Anfang Februar begannen die Bauarbeiten. Erst nach und nach formierte sich der Widerstand. Der bis dahin wenig beachtete Stuttgarter Hauptbahnhof wurde in seiner architektonischen Besonderheit neu entdeckt, und als die Bulldozer sich in ihn hineinfrassen, erscholl der Aufschrei der Protestierenden lauter und lauter. Zunehmend wurde man sich der Tatsache gewahr, dass „unterirdisch“ nicht heisst, dass an der Erdoberfläche so gut wie nichts geschieht. In der vergangenen Nacht wurden jahrzehntealte Kastanien und Robinien gefällt – für die Demonstranten ein starkes Symbol für die Art, wie sich die Arroganz der Macht durchsetzt.

Der Schwenk der SPD

Zu den ersten Kritikern haben die Grünen im Stuttgarter Landtag gehört, aber mit dem Anschwellen der Proteste machten die Sozialdemokraten, die das Projekt zunächst befürwortet und mit getragen hatten, einen Schwenk. Ihr hoch angesehener ehemaliger Landesvorsitzender Erhard Eppler machte den Vorschlag, die Wählerinnen und Wähler über das Projekt in einer Volksabstimmung entscheiden zu lassen. Dem CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus steht das Wasser bis zum Hals, denn die Umfragewerte der CDU sind in den Keller gerauscht, und in einem halben Jahr stehen Landtagswahlen an.

Gestern haben auch Schulklassen im Stuttgarter Schlossgarten demonstriert. Dabei setzte die Polizei Schlagstöcke und Pfefferspray ein. Nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes wurden 114 Demonstranten verletzt, von denen 16 in Krankenhäuser mussten. Auf Seiten der Polizei zählte man sechs Verletzte. Zudem sollen 68 Demonstranten vorübergehend festgenommen worden sein. Insgesamt standen deutlich über eintausend Demonstranten einigen hundert Polizisten gegenüber.

Vom Sackbahnhof in die Sackgasse

In der Nacht fielen die ersten Bäume. Die Bilder davon und die Bilder von verletzen Schülerinnen und Schülern, die auch vom deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden, lassen niemanden unberührt. Tatsache ist, dass die Planungen zur Ersetzung des Sackbahnhofs in eine Sackgasse geführt haben. Denn die politisch verantwortlichen Vertreter des Projekts betonen ebenso wie das Management der Deutschen Bahn AG und anderer beteiligter Firmen, dass das Projekt in einwandfreien demokratischen Verfahren beschlossen worden sei. Entsprechend wurden Aufträge vergeben. Wenn aufgrund eines Protestes, der erst zum Baubeginn einsetzte, die Beschlüsse wieder vom Tisch gewischt werden, ist jede Planungssicherheit dahin, und die Demokratie erleidet schwersten Schaden.

Die Demonstranten und ihre Wortführer sehen das ganz anders. Sie verweisen darauf, dass die Planungen mit dem Budget von etwas mehr als vier Milliarden Euro auf wackeligen Füssen stehen und das Projekt am Ende wesentlich teurer komme. Was heisse in diesem Zusammenhang Planungssicherheit? Zudem sei es nicht hinnehmbar, dass sich die Regierenden aufgrund formaler Verfahren über einen Volkswillen hinweg setzten, der erkennbar in eine andere Richtung weise.

Droht am Ende Unregierbarkeit?

Vor etwa zehn Tagen hat es erste Gespräche zwischen Befürwortern und Gegners des Projekts gegeben. Nach den Ereignissen vom Donnerstag und der vergangenen Nacht muss bezweifelt werden, das eine Lösung gefunden werden kann, die den Auffassungen beider Seiten gerecht wird. Man kann in den Protesten, die sich nicht von ungefähr auf die Leipziger Montagsdemonstrationen vor zwanzig Jahren mit dem Slogan, „Wir sind das Volk“, beziehen, Vorboten eines neuen Politikstils sehen. Der würde darin bestehen, dass unliebsame Beschlüsse der demokratisch gewählten Politiker mittels Protesten und Streiks einfach annulliert werden. In Bezug auf Sparbeschlüsse geschieht dies bereits in anderen europäischen Ländern. Die Frage stellt sich, ob bei allem Verständnis für die Anliegen der Demonstranten am Ende nicht das Problem der Unregierbarkeit die besten Absichten zunichte macht.

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