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Kommentar 21

Kippeffekte

29. Juli 2019
Stephan Wehowsky
Könnte das Klima aufgrund von Kippeffekten schneller kollabieren als erwartet? Hitzewellen nähren diese Befürchtung.

Kippeffekte werden durch die Addition verschiedener schädlicher Faktoren innerhalb eines Systems ausgelöst. So hat die Klimaerwärmung das Auftauen der Permafrostböden in der Tundra zur Folge, wodurch zusätzliches Methan frei wird, das wiederum den Treibhauseffekt verstärkt. Und das Abschmelzen des Eises an den Polen gibt Meeresoberfläche frei, die anders als das Eis Wärmestrahlung aufnimmt, anstatt sie abzustrahlen. Wärme erzeugt also noch mehr Wärme. Zudem schädigen Hitze- und Trockenperioden die Wälder weltweit, so dass sie ihre Funktion als CO2-Speicher mehr und mehr verlieren.

Jeder dieser schädlichen Prozesse dürfte das Klima negativer beeinflussen als zahlreiche industrielle Verfahren, die Thema der Klimadebatte sind und die man mit Fug und Recht in ihren negativen Auswirkungen begrenzen will.

Damit entsteht eine neuartige Frage: Ändert menschliches Handeln etwas an den Klimafolgen der Kippeffekte, die, je nach Lesart, schon eingetreten sind oder noch bevorstehen? Das Pariser Klimaabkommen mutet in Anbetracht dessen fast schon nostalgisch an. Da hatte man noch geglaubt, mit einer weltweiten Reduktion der Treibhausgasemissionen mässigend auf das Klimageschehen einwirken zu können. Nun macht sich das Klima mehr und mehr selbstständig, indem es zusätzliche schädigende Faktoren selbst produziert und massiv verstärkt.

Die bislang meist vergeblich angezielten Massnahmen zur CO2-Begrenzung wirken weit unterdimensioniert. Wahrscheinlich wären viel radikalere Schritte und Einschränkungen nötig, aber die dafür erforderlichen nahezu diktatorischen Praktiken passen nicht zu Rechtsstaaten und hätten mit Sicherheit soziale Verwerfungen zur Folge. Also kann es nur bei kleinen Schritten bleiben. 

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass unsere Gesellschaft zu mehr nicht in der Lage ist. Jeder Manager und Politiker handelt in seiner fein abgezirkelten Organisation, wahrt dort seine Interessen und geht den Weg, der am meisten Erfolg und den geringsten Widerstand verspricht. Der Soziologe Ulrich Beck nannte das die „organisierte Unverantwortlichkeit“. Jeder handelt so, dass er in seinem Teilsystem nach Möglichkeit optimal dasteht. Bis das ganze System kippt.

Nach dieser pessimistischen Diagnose wollte Ulrich Beck doch nicht ganz die Hoffnung verlieren und beschäftigte sich mit dem Thema der „Gegengifte“. Das war in den 1990er Jahren. Heute bräuchten wir sie noch mehr als damals.

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