In seiner Rede vor der Uno-Vollversammlung hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erneut seinen Widerstand gegen die Schaffung eines Palästinenserstaates bekräftigt. Gleichzeitig erklärte er, Israels Militäroperation gegen die Hamas in Gaza Stadt gehe weiter, «um den Job so schnell wie möglich zu beenden». Derweil berichten ausländische Ärztinnen und Ärzte nach wie vor Erschütterndes über ihre Erfahrungen vor Ort.
Benjamin Netanjahu sprach am Freitagmorgen in New York in der Uno vor einem halbleeren Saal, nachdem Dutzende von Ländervertreterinnen und -vertretern die Vollversammlung aus Protest verlassen hatten. Dafür konnten die Menschen in Gaza die Worte des israelischen Premiers hören.
Nicht nur waren an der Grenze Israels zu Gaza auf Lastwagen Lautsprecher installiert worden, welche die Rede Netanjahus direkt in den Küstenstreifen übertrugen; seine Ausführungen wurden vom Geheimdienst per Live-Stream auch auf die Handys der Einheimischen gespielt. Die Botschaft des Premiers an die Geiseln der Hamas auf Hebräisch: «Wir haben euch nicht vergessen, keine Sekunde lang.»
Die Führer jener Länder ansprechend, die unter der Woche den palästinensischen Staat anerkannt hatten, sagte Benjamin Netanjahu, sie würden eine antisemitische Botschaft aussenden: «Juden zu ermorden, zahlt sich aus.» Viele Staatschefs seien unter dem Druck voreingenommener Medien eingeknickt. Anschuldigungen, Israel würde in Gaza einen Völkermord und Kriegsverbrechen begehen, nannte der Ministerpräsident «antisemitische Lügen».
«Kein nationaler Selbstmord»
Für Israel, so Netanjahu vor der Uno, sei jedes zivile Opfer «eine Tragödie», für Hamas aber «eine Strategie». Er bestritt, dass Israel Hunger als Kriegswaffe einsetze. Solche Vorwürfe seien falsch; falls die Menschen in Gaza nicht genug zu essen hätte, sei das die Schuld der Hamas. Auch begehe Israel, so der Premier, keinen Völkermord, was die Evakuationsbefehle der israelischen Armee für Zivilisten in Gaza beweisen würden: «Haben die Nazis die Juden freundlich gebeten, wegzugehen, herauszugehen?» Israel tue alles, behauptete er, damit Zivilisten in Gaza nicht zu Schaden kämen.
Israelis, bekräftigte Benjamin Netanjahu in New York, würden nicht «nationalen Selbstmord begehen», indem sie der Gründung eines Palästinenserstaats zustimmten. «Wir werden euch nicht erlauben, einen Terrorstaat in unsere Kehlen zu stopfen», sagte er an die Adresse jener Staatschefs, die Palästina anerkennen: «Es wird für euch alle ein Schandmal sein.» Die Vorstellung eines Palästinenserstaates, so Netanjahu, sei «purer Wahnsinn». Es wäre, als ob man Al-Qaida nach 9/11 erlauben würde, einen Staat eine Meile von New York City entfernt zu gründen.
«Wir säubern und rücken vor»
Auf das seit 1967 besetzte Westjordanland, das rechtsextreme Minister des Kabinetts in Jerusalem annektieren wollen, ging Israels Premier in seiner Rede nicht näher ein. «Ich werde Israel nicht erlauben, die West Bank zu annektieren», hatte US-Präsident Donald Trump einen Tag zuvor im Oval Office gesagt: «Es wird nicht passieren.»
Gleichzeitig gingen die Angriffe der israelischen Armee auf Gaza Stadt ungebremst weiter. «Israel macht Teile von Gaza City platt», titelte die «New York Times» unter Verweis auf Satellitenbilder. «Wir erobern Territorium und besetzen es», hatte Netanjahu diesen Monat in einem Interview mit einer rechtsgerichteten israelischen Fernsehstation erklärt: «Wir säubern es und rücken vor.»
Das heisst, die IDF sprengt Gebäude, die sie erobert hat, bevor sie weiter vorrückt. Armeesprecher lassen jedoch verlauten, es gebe keinen Plan, zivile Quartiere in Gaza dem Erdboden gleich zu machen: Die IDF attackiere lediglich Gebäude, welche die Hamas benutze, und nehme Tunnel sowie andere militärische Ziele ins Visier.
Die Hamas formiert sich neu
Es gelte, sagte Israels Premier in New York, die Hamas definitiv aus ihren Hochburgen im Küstenstreifen zu vertreiben. «Befreit die Geiseln jetzt», forderte er: «Wenn ihr das tut, werdet ihr leben. Wenn ihr es nicht tut, wird Israel euch jagen.»
Doch die Hamas auszulöschen ist ein Unterfangen, dem selbst Israelis skeptisch gegenüberstehen. Zwar hat die IDF zweifellos Tausende von Hamas-Kämpfern getötet, ihr Waffenarsenal dezimiert und ihr Tunnel-Netzwerk weitgehend zerstört. Die Terrororganisation hat sich aber umgruppiert und kämpft heute in kleinen, mobilen Widerstandszellen, welche die israelische Armee nicht mehr direkt angreifen, sondern über Gaza verstreut punktuell Guerilla-Aktionen lancieren. So hat die Hamas seit Anfang Jahr 70 israelische Soldaten getötet.
Dem früheren CIA-Direktor William J. Burns zufolge ist die Hamas heute nicht mehr in der Lage, ein Massaker wie jenes am 7. Oktober 2023 zu verüben. Auch ihre Fähigkeit, Raketen auf Israel abzuschiessen, ist wohl weitgehend gestoppt. Israelische Geheimdienstkreise schätzen, dass die Organisation in Gaza noch auf rund 15’000 Kämpfer zählen kann. «Es ist naiv, anzunehmen, dass die Hamas kurzfristig besiegt werden kann», schätzt Michael Milshtein, ein früherer Nachrichtenoffizier der IDF, der sich auf palästinensische Angelegenheiten spezialisiert: «So funktioniert das nicht.»
Übertreibungen auf beiden Seiten
Der militärische Flügel der Hamas selbst hat verlauten lassen, er halte in Gaza «eine Armee von Selbstmordattentätern und Tausende von Hinterhalten» bereit. Doch palästinensische Analysten glauben, dass sowohl die Hamas als auch Israel die reale Stärke des Widerstands übertreiben, um eigenen Interessen zu dienen.
Die Hamas, sagt Analyst Mohammed al-Astal, projiziere Stärke, um Israel dazu zu bewegen, den Krieg zu beenden; und Israel porträtiere die Hamas als einen ernstzunehmenden Gegner, um einen Vorwand zu haben, Gaza zu zerstören und dessen Bevölkerung zu vertreiben: «Was Israel auf dem Boden praktiziert, geht über die Zerstörung der Hamas hinaus. Es herrscht unter Palästinenserinnen und Palästinensern der allgemeine Eindruck, dass Israel Gaza und dessen Bevölkerung eliminieren will.»
Ein «Tsunami» von Patienten
Gleichzeitig berichten Ärzte, dass die wenigen noch halbwegs funktionierenden Spitäler im Zentrum und im Süden Gazas von einem «Tsunami» verwundeter und kranker Menschen überflutet werden, von denen viele aus Gaza Stadt vertrieben worden sind. «Jeden Tag sehen wir mehr Leute aus dem Norden mit Bomben- und Schussverletzungen, mit alten, dreckigen und infizierten Winden», berichtet der britische Chirurg Dr. Martin Griffiths, der als Freiwilliger in Gaza arbeitet: «Alle sind sie hungrig, unterernährt, haben ihr Heim und Angehörige verloren und alle haben sie Angst. Uns mangelt es an allem.»
Schätzungen der Uno zufolge haben bereits rund 320’000 Menschen Gaza Stadt verlassen, wo eine Reihe medizinischer Einrichtung schliessen musste. Unter den zu Fuss Fliehenden befinden sich viele Kinder, auch Kleinkinder, aber alle sind sie von den Kämpfen betroffen. «Selbst wenn jemand ein Fahrzeugt hat, braucht er mindestens einen Tag oder zwei Tage (vom Norden in den Süden)», sagt der Chirurg: «Wenn Kugeln oder Bomben sie nicht töten, dann wird es die Infektion tun.»
«Jemand schiesst auf Kinder»
Erschreckend auch die Aussagen, welche die Amsterdamer Tageszeitung «De Volkskrant» in einer aufwühlenden Recherche jüngst unter Ärztinnen und Ärzten gesammelt hat, die nach freiwilligen Einsätzen aus Gaza zurückgekehrt sind. 15 von 17 Befragten berichteten, sie hätten zusammen 114 Fälle von Kindern unter 15 Jahren dokumentiert, denen in den Kopf oder in die Brust geschossen worden und von denen eine Mehrheit gestorben sei.
«Das ist nicht Kreuzfeuer: Das sind Kriegsverbrechen», sagt die amerikanische Notfallärztin Mimi Syed, die 18 solcher Fälle dokumentiert hat. Unfallchirurg Feroze Sidhwa aus Kalifornien indes ging erst von vereinzelten Fällen solcher Wunden aus, bis er in einem Spital auf mehrere Knaben traf, denen direkt in den Kopf geschossen worden war: «Das ist gezieltes Gewehrfeuer. Jemand schiesst auf Kinder.»
«Das ist kein Kollateralschaden»
«De Volkskrant» konsultierte Gerichtsmediziner, welche die Röntgenbilder getöteter Kinder überprüften und zum Schluss kamen, dass die Verletzungen aller Wahrscheinlichkeit nach von Scharfschützen- oder Drohnenfeuer aus grösserer Distanz und nicht von Granat- oder Bombensplittern stammten. Mart de Kruif, der frühere Kommandant der holländischen Armee, sagte, die schiere Zahl von in Kopf oder Brust getroffenen Kindern mache die Behauptung von Zufällen unwahrscheinlich: «Das ist kein Kollateralschaden – das ist absichtliches Zielen.»
Die israelische Armee dementiert, gezielt auf Kinder oder Zivilisten zu schiessen, und beantwortet entsprechende Fragen nicht. Sie weist auch zurück, in Gaza Splittermunition einzusetzen, obwohl Chirurginnen und Chirurgen regelmässig den schrecklichen Verletzungen begegnet sind, die solche Munition in Körpern anrichtet. Es sei die Hamas, sagt die IDF, die «gefährliche Bedingungen für Zivilisten» schaffe.
«Die absolute Hölle»
Von Schüssen abgesehen sind die meisten Verletzungen in Gaza Folge von Bomben- und Granatenexplosionen: Menschen werden von der Druckwelle getroffen, der Hitze, herumfliegenden Splittern und von Trümmern kollabierender Gebäude. Scherben reissen Zeltwände auf und treffen häufig Kinder, die mehr als 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Für verwundete Kinder in Gaza, die keine überlebenden Familienangehörigen mehr haben, gibt es inzwischen eine offizielle medizinische Klassifikation: «WCNF – Wounded Child, No Surviving Family».
«Ich habe mehrere Kinder mit heraushängender Hirnmasse gesehen, berichtet Jack Latour, Pfleger der Médecins Sans Frontières (MSF): «Ich weiss, dass das niemand hören will. Aber das passiert hier.» Der britische Chirurg Goher Rahbour sah ein fünfjähriges Mädchen ohne Fuss: «Es lag am Boden. Das Kind neben ihm war ebenfalls klein. Ihm fehlte ein Bein unter dem Knie. Dann kam ein anderes. Ich erstarrte. Ich dachte: Das ist die absolute Hölle.»
Zum Spass geschossen?
In einem anderen Fall begegnete Dr. Rahbour an einem Tag fünf oder sechs Patienten, denen sowohl in beide Arme als auch in beide Beine geschossen worden war. «War das zum Spass?», wunderte er sich: «Spielen die Soldaten hier ein Spiel?» Auf jeden Fall haben israelische Scharfschützen 2020 der Zeitung «Haaretz» anonym berichtet, sie hätten versucht, einen Rekord aufzustellen, indem sie innert eines Tages auf so viele Knie wie möglich zielten. Einer unter ihnen traf angeblich 42.
Fast alle der von der Zeitung Befragten, obwohl unter Schuldgefühlen leidend, möchten für weitere Einsätze nach Gaza zurückkehren. Doch sie fürchten, von Israel keine Einreiseerlaubnis mehr zu erhalten, nachdem sie mit Dokumenten von Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit gegangen sind. Laut Uno-Angaben hat Israel seit März 2025 oft ohne nähere Erklärung über 100 ausländischen Vertreterinnen und Vertretern des medizinischen Personals den Zutritt zu Gaza verweigert. Und jenen, die einreisen dürfen, werden an Checkpoints mitunter Medikamente oder Babynahrung abgenommen, die sie angesichts des diesbezüglichen Mangels selbst mitbringen. Den entsprechenden Augenzeugenbericht einer britischen Chirurgin bezeichnet die IDF als «völlig inkorrekt».
«Die Auslöschung eines Volkes»
Am 28. Mai 2025 trat der Amerikaner Dr. Feroze Sidhwa vor dem Uno-Sicherheitsrat auf: «Ich bin Arzt und gebe Zeugnis über die gezielte Zerstörung eines Gesundheitssystems, die gezielten Angriffe auf meine Kolleginnen und Kollegen sowie die Auslöschung eines Volkes.» Seine Patientinnen und Patienten, berichtete er, seien Sechsjährige mit Splittern in ihren Herzen und Kugeln in ihren Gehirnen gewesen: «Und Frauen, deren Becken zertrümmert und deren Fötusse auseinander gerissen worden waren, während sie noch im Bauch waren.»
Feroze Sidhwas britischer Kollege Nizam Mamode brach zusammen, als er im Herbst 2024 in London vor einer Kommission des britischen Parlaments über seine Erfahrungen in Gaza aussagte. Er erzählte von Kindern, die nach einer Explosion am Boden lagen, nur um noch von bewaffneten Drohnen beschossen zu werden: «Das geschah Tag für Tag.» Der 63-jährige Chirurg fing an zu schweigen, schloss die Augen und begann zu zittern. «Ich fühle (mit Ihnen) …», sagte die Kommissionsvorsitzende empathisch, «weil Sie nicht ungesehen machen können, was Sie gesehen haben.»
Quellen: De Volkskrant, The New York Times, The Washington Post, The Guardian, Haaretz