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Film

«Die Stimme Gazas, die um Hilfe bittet»

7. September 2025
Ignaz Staub
Ignaz Staub
Hind Rajab
Das palästinensische Mädchen Hind Rajab auf einem undatierten, 2024 veröffentlichten Familienfoto (Reuters/Al Jazeera)

Während am Filmfestival in Venedig ein Dokudrama über die Ermordung eines sechsjährigen Mädchens in Gaza das Publikum zu Tränen rührt, hat Israels Verteidigungsminister angekündigt, jetzt müssten die Türbolzen «von den Toren der Hölle» des Küstenstreifens entfernt werden. Derweil kontrolliert die israelische Armee (IDF) bereits 40 Prozent von Gaza-Stadt.

Der Film der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania läuft unter dem Titel «The Voice of Hind Rajab» und erzählt anhand von Tonaufzeichnungen die Geschichte eines sechsjährigen Mädchens, das Soldaten der IDF am 29. Januar 2024 kaltblütig töteten. Am Nachmittag jenes Tages war Hind Rajab mit ihrem Onkel, ihrer Tante sowie vier Cousinen und Cousins in Gaza-Stadt im Auto unterwegs, als Armeeangehörige an einer Tankstelle das Feuer auf das Fahrzeug eröffneten und alle Insassen ausser der Sechsjährigen töteten. Das Auto wurde von 300 Schüssen getroffen.

Die israelische Armee dementierte zuerst, in der Nähe des Fahrzeugs gewesen zu sein, hat aber inzwischen, 19 Monate nach der tödlichen Attacke, mitgeteilt, der Vorfall werde noch untersucht. Bereits im Juni 2024 hat jedoch eine Untersuchung des Fernsehsenders Al-Jazeera in Zusammenarbeit mit der NGO «Forensic Architecture and Earshot» ergeben, dass ein israelischer Panzer, zwischen 13 und 23 Metern entfernt, das Feuer auf das Fahrzeug eröffnet hatte. Einen Monat später zeigte ein auf forensische Analysen gestützter Uno-Bericht, dass das Auto aus grosser Nähe mit einem Typ Munition beschossen worden war, der «allein israelischen Streitkräften zugeordnet werden kann».

«Bitte kommt zu mir, ich habe Angst»  

Kern des Films sind Original-Aufnahmen der Telefongespräche, die das verzweifelte sechsjährige Mädchen, im Auto mit den sechs Leichen ihrer nahen Verwandten gefangen, während drei Stunden mit Mitarbeitenden im Call Center der Palestine Red Crescent Societey (des arabischen Rote Kreuzes) in Ramallah im Westjordanland führte. Hind bat die Helferinnen und Helfer wiederholt schluchzend, ihr zu helfen und sie zu retten. Sie sagte, sie habe Angst, während im Hintergrund Gewehrfeuer zu hören war.

Was sie nicht wissen konnte, war der Umstand, dass das Call Center die ganze Zeit fieberhaft versuchte, mit Erlaubnis der Israelis einen Krankenwagen in Gaza zu ihr zu lotsen. Es dauerte aber Stunden, bis eine Ambulanz, die lediglich acht Minuten von der Tankstelle entfernt war, losfahren durfte, und der Telefonkontakt zwischen dem Call Center rund dem Mädchen brach unvermittelt ab, nachdem der Krankenwagen in der Nähe des Autos eingetroffen war. Zwölf Tage später wurden die Leichen von zwei Sanitätern aus der zerstörten Ambulanz geborgen und die verwesenden sterblichen Überreste Hind Rajabs und ihrer sechs Verwandten gefunden. Gemäss dem Uno-Büro für Menschenrechte (OHCHR) hat die israelische Armee bis Mitte Juli 2025 in Gaza 1’581 Angehörige des medizinischen Personals (Pflegepersonal, Sanitäter, Ärzte) getötet. 

Der Film zeigt nicht, wie die Sechsjährige in Gaza getötet oder das Auto ihres Onkels attackiert wird und macht auch keine direkten politischen Aussagen. Er basiert auf den 70-minütigen Aufzeichnungen der Telefonate zwischen dem Mädchen und der Red Crescent Society, die in den sozialen Medien zu zirkulieren begannen und auf die Regisseurin Kaouther Ben Hania bei einem Zwischenstopp auf dem Flughagen in Los Angeles aufmerksam wurde.

«Er war die Stimme Gazas»

Als sie, so die 48-jährige Tunesierin, das Audio gehört habe, sei ihr klar geworden, dass sie alles liegen lassen und einen Film darüber machen müsse: «Das Ganze ist so unmenschlich und deshalb sind das Kino, die Kunst und jegliche Ausdruckform wichtig, um diesen Menschen eine Stimme und ein Gesicht zu geben.» Dabei habe sie nicht nur Hind Rajabs Stimme allein motiviert: «Es war die Stimme Gazas, die um Hilfe bat, und niemand konnte ihr helfen.»

Die erfahrene Regisseurin sprach mit den Leuten des Call Center in Ramallah, die im Film von Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert werden. Doch die Aufzeichnungen ihrer Gespräche mit dem sechsjährigen Mädchen sind real. Die Regisseurin unterhielt sich auch ausführlich mit Hind Rajabs Mutter. «Die ganze Welt lässt uns im Stich und wir sterben, wir hungern, wir leben in Angst und wir werden zwangsumgesiedelt, ohne etwas verbrochen zu haben», hat Wissam Hamada, die mit einem Sohn noch in Gaza lebt, der Nachrichtenagentur AFP gegenüber gesagt. Heute ist Hind Rajab eines von über 18’000 Kindern, welche die israelische Armee seit dem 7. Oktober 2023 nach dem Massaker der Hamas in Gaza getötet hat.

Ein Kind, das um Hilfe bettelt

Der Palästinenser Mataz Malhees spielt im 89-minütigen Film Omar einen jungen Freiwilligen, der im beigefarbenen Büro des Call Centers als erster mit Hind spricht. Doch ihm gelingt es nicht, das verängstigte Mädchen zu beruhigen, das sich im Auto vor den Soldaten der IDF versteckt. Malhees, der aus Jenin im Westjordanland stammt, erlitt während den Dreharbeiten zwei Panikattacken. Er habe, erzählte er an der Pressekonferenz in Venedig, seit er zehn Jahre alt gewesen sei, unter jener Art von Terror gelebt, den der Film zeigt. Hind Rajabs Stimme habe ihn in die Zeit zurückversetzt, als er noch ein Kind war, das um Sicherheit bettelte: «Während den Dreharbeiten war es für mich, als würde ich tausendmal sterben.» 

Saja Kilani, welche die Vorgesetzte der Notrufzentrale in Ramallah spielt, fragte in Venedig im Namen aller Schauspielerinnen und Schauspieler sowie der ganzen Film-Crew: «Ist es nicht genug? Genug des Massenmordes, des Verhungerns, der Entmenschlichung, der Zerstörung, der andauernden Besetzung?» Hind Rajabs Geschichte, so die Schauspielerin, drehe sich um ein Kind, das um Hilfe bettelt: «Die eigentliche Geschichte aber ist die, dass wir es zulassen, dass ein Kind um sein Leben flehen muss.» 

Kaouther Ben Hanias «The Voice of Hind Rajab» endet ganz dokumentarisch: mit Ausschnitten aus Gesprächen mit der Mutter des getöteten Mädchens und Sequenzen aus einem Video der Familie, das Hind beim Spielen am Strand von Gaza zeigt. Als im Kinosaal in Venedig Mitte vergangener Woche die Lichter angingen, brandete eine stehende Ovation auf, die 23 Minuten dauerte – der Hollywood-Website «Deadline» zufolge wohl der längste Applaus, der je am Filmfestival zu hören war. Auf jeden Fall zwingt das Dokudrama Zuschauerinnen und Zuschauer, genau hinzuhören, anders als bei den Worten des Bedauerns oder der Empörung, die mit schöner Regelmässigkeit aus der Politik zu vernehmen sind – Worten, denen keine Taten folgen.

Am Sonntag meldete die Website von «Haaretz», dass die israelische Armee tags zuvor, am 702. Tag des Krieges in Gaza, 62 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet hat. Gleichzeitig sind laut dem lokalen Gesundheitsministerium innert 24 Stunden sechs Menschen, unter ihnen ein Kind, verhungert. Derweil protestierten in Jerusalem, Tel Aviv und landesweit Zehntausende Israelis für ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln im Küstenstreifen und gegen die Pläne der Regierung unter Premier Netanjahu, Gaza-Stadt zu besetzen. 

Quellen: Al-Jazeera, BBC, Variety, Deadline, The Washington Post, The Guardian

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