Direkt zum Inhalt
  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
Israel/Gaza

Netanjahu will den Gazastreifen besetzen

8. August 2025
Reinhard Schulze
Netanjahu
Benjamin Netanjahu in Washington (Keystone/AP/Manuiel Balce Ceneta)

Das israelische Sicherheitskabinett hat am Donnerstagabend darüber befunden, dass der Gazastreifen vollständig durch die israelischen Streitkräfte besetzt werden soll. Die Besetzung würde mit der Eroberung der Stadt Gaza im Norden des Landes beginnen.

Die Besetzung sei nicht auf Dauer angelegt, eine Rückgabe der Souveränität an die palästinensische Autonomiebörde sei aber ausgeschlossen. Während Premier Benjamin Netanjahu diesen Schritt befürwortet, meldet die Armeeführung erhebliche Zweifel am Sinn eines solchen Vorgehens an. 

Die Umsetzung des Entscheids des israelischen Sicherheitskabinetts, den gesamten Gazastreifen militärisch zu besetzen, würde die Bevölkerung in Gaza zunächst einer israelischen Militärgesetzgebung unterstellen, die jener im Westjordanland ähnelt. Die israelische Regierung dürfte jedoch auch ein Interesse daran haben, dass perspektivisch eine zivile Selbstverwaltung entsteht, die dann von arabischen Staaten mitfinanziert wird. Die verbirgt sich hinter Netanjahus Aussage, langfristig den Gazastreifen einer «arabischen» Verwaltung zu unterstellen. 

Da Netanjahu deutlich gemacht hat, dass Israel in Zukunft keine bewaffnete Macht in Gaza mehr tolerieren würde, entspräche dies dem Status der Zone B im Westjordanland. In dieser Zone haben palästinensische Institutionen eine zivile Verwaltungsmacht inne, während die gesamte militärische und polizeiliche Sicherheit allein in der Verantwortung des israelischen Militärs liegt. Mit der Besetzung würde die israelische Regierung allerdings zugleich die noch bestehenden rechtlichen Bindungen von Gaza als Teilgebiet der palästinensischen Autonomiebehörde kappen. Gaza wäre damit ein Protektorat Israels.

Besetzung eines zerstörten Landes

Israel würde ein weitgehend verwüstetes Land besetzen, auf dem 2,1 Mio. Menschen auf knapp 360 qkm leben, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt ebenfalls in Trümmern liegt. Ein Besatzungsregime würde der lokalen Bevölkerung zwar einen äusserlichen Frieden und eine rudimentäre Verbesserung der Versorgungslage bringen, zugleich drohte jedoch, dass sie zum Spielball der israelischen Innenpolitik wird. Die rechtsextremen Koalitionspartner Netanjahus haben deutlich gemacht, dass sie der palästinensischen Bevölkerung das Land streitig machen und diese komplett aussiedeln möchten. Solange sich die israelische Regierung nicht eindeutig von solchen Plänen distanziert, wird die lokale Bevölkerung in Angst vor einer Vertreibung leben. Im Gegenteil: in einem Interview mit dem US-amerikanischen Sender Fox hat Netanjahu vielleicht als Lapsus gesagt, Israel kenne im Gaza-Streifen nur Kombattanten und bewaffneten Kombattanten. Das nährt natürlich Befürchtungen, die israelische Regierung erkenne keinerlei zivilen Ebene im Gazastreifen mehr an. 

Die Tatsache, dass fast 70 % der Wohn- und Gewerbeimmobilien sowie grosse Teile der Infrastruktur in Gaza zerstört sind, 90 % der Bevölkerung zu Flüchtlingen wurden und allein der Wiederaufbau der kritischen Infrastruktur 18 Mrd. US-Dollar kosten würde – also fast 100 % des Bruttoinlandsprodukts des Westjordanlands und des Gazastreifens – macht deutlich, dass mit der Besetzung des Gazastreifens keines der Probleme gelöst würde. Selbst die von Netanjahu versprochene Sicherheit für Israel wäre keineswegs gewährleistet, da der Krieg die gesamte soziale Architektur der Gesellschaft zerstört und Freiräume für Banden und terroristische Zellen geschaffen hat. Auch wenn es gelingen würde, parallel zur Besetzung mit den Köpfen der Auslandshamas eine vollständige Entwaffnung der Organisation und einen politischen Rückzug aus dem Gazastreifen zu verabreden, würde das unter den Bedingungen einer zerstörten Gesellschaft keine Sicherheit schaffen, weder für Israel noch für die Palästinenser in Gaza. Eher ist zu befürchten, dass sich in den zahlreichen Nischen der zertrümmerten Gesellschaft ultrareligiöse Kampfbünde einnisten, die Israel und Palästina gleichermassen als Bühne ihres apokalyptischen Wahns begreifen.

Für die verbliebenen Geiseln käme die militärische Durchsetzung der Besatzung einem Todesurteil gleich. Zugleich würde sie den apokalyptischen Erwartungen der Hamas entsprechen. Hamas hat mehr als einmal deutlich gemacht, dass sie der Bevölkerung im Gazastreifen die Bereitschaft zur Selbstopferung abverlangt, um den vermeintlichen religiösen Auftrag einer Wiedergeburt der palästinensischen Nation zu erfüllen. Einen Schutz der Zivilbevölkerung wird Hamas genauso wenig zulassen wie einen Schutz der Geiseln. Sie wird daher auf im Fall einer Durchsetzung der Besatzung das Leid der Geiseln wie der Bewohner Gazas weiter zur Szene ihrer ideologischen Geltungsansprüche machen. Dazu gehören auch jene grauenhaften Inszenierungen, in denen die Hamas die Geiseln sich ihr eigenes Grab schaufeln lässt.

Die Reste der Hamas

Die Hamas hatte am 7. Oktober 2023, als sie den terroristischen Angriff auf Südisrael startete, maximal 40‘000 Mann unter Waffen. Hinzu kamen Verbände der kleineren Kriegspartner wie der Islamische Dschihad oder die PFLP. Im Krieg dürften die Hamas und ihre Verbündeten mehr als drei Viertel ihrer Kombattanten verloren haben. Somit dürfte sich die Zahl der noch aktiven Kombattanten auf etwa 8‘000 bis 10‘000 Mann belaufen. Eine einheitliche Kommandostruktur dürfte es nicht mehr geben. Ihr Rückzugsraum ist weiterhin das Tunnelsystem, das den Gazastreifen wie ein unterirdisches Netzwerk durchzieht. Angeblich befinden sich noch 50 % der Tunnel unter der Kontrolle der Hamas. Die Organisation scheint weiterhin in der Lage zu sein, ihre Kämpfer in kleineren Gruppen zu koordinieren, insbesondere aus dem weit verzweigten, allerdings zum Teil verwaisten Tunnelsystem heraus. Die Grösse der Kampfverbände erreicht maximal Kompaniestärke. Eine politische Struktur der Hamas gibt es nur noch in Resten. Allerdings gelingt es der Hamas immer noch, eine Erzwingungsgewalt als bewaffnete Macht zu formieren, durch die sie die lokale Bevölkerung weiter entmündigen und terrorisieren kann.

Reaktionen

Da es derzeit jedoch keinen Prozess gibt, der den Namen Friedensprozess verdiente, dürften sich die Auswirkungen der Besetzung des Gazastreifens auf die Planungen eines Friedensprozesses in Grenzen halten. Entscheidend ist die politische Begleitmusik. Wenn die israelische Regierung die Besetzung mit dem Versprechen verknüpfen würde, einen Prozess hin zu einem gerechten Frieden zu initiieren, und damit zeigen würde, dass die Besetzung nicht allein dem Interesse Israels dient, sondern auch der Wiedergewinnung der politischen und sozialen Souveränität der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen und im Westjordanland, dann könnte die Besetzung sogar stille Zustimmung finden. Dies setzt jedoch einen grundsätzlichen Wandel der israelischen Regierungspolitik voraus, die den Krieg gegen die Hamas wieder entideologisiert. Ohne eine solche Politik werden Israel und die Palästinenser einer sehr unsicheren Zukunft entgegenblicken.

Trumps Visionen

Trump agiert wie ein Immobilienmakler, der ein Haus mit dem Versprechen verkauft, dass den derzeitigen Mietern gekündigt wird. Trumps Gaza ist ein Gaza ohne palästinensische Bevölkerung. Netanjahu hat hingegen zumindest in Momenten, in denen er eine Weltöffentlichkeit und nicht seine Koalitionspartner ansprach, deutlich gemacht, dass er sich für eine Selbstverwaltung der Bevölkerung im Gazastreifen einsetze. Gegenüber seinen Koalitionspartnern hat er jedoch Trumps Immobilienvisionen positiv gewürdigt. In der israelischen Öffentlichkeit kursieren auch Werbeversprechen für den Bau einer blühenden Riviera. 

Es existieren auch immer noch Pläne, die Gaza zu einem Hub für die arabischen Golfstaaten machen wollen. Trumps Vision ist, dass in einem solchen Gaza nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung beheimatet ist und ihr Grossteil andernorts, etwa in Jordanien und Ägypten neu ansässig würde. Während Trump Gaza in einen globalen Immobilienmarktplatz verwandeln möchte, träumen die israelischen Rechtsradikalen hingegen von einer Annexion, durch die auch Gaza zu einem integralen Bestandteil des Staats Israel würde. Die rechtsextremen Parteien werden eine Besetzung des Gazastreifens als Präludium zu einer Annexion feiern. Je nachdem, wie Netanjahus Reaktion ausfallen wird, wird sich zeigen, ob Trumps Vision überhaupt noch Rückhalt in der israelischen Politik findet. 

Erwartungen

Die Bevölkerung in Gaza wird erst einmal mit Bangen schauen, wie sie ihre Fluchtsituation bewältigen kann. Sollte die Aussicht bestehen, ihre Wohnstätten wiederzuerlangen beziehungsweise sich in den Trümmern provisorische Unterkünfte und Arbeitsmöglichkeiten zu verschaffen, werden die Menschen im Gazastreifen wohl auch den Vergleich mit der Lage der Palästinenser im Westjordanland anstellen. Vielleicht hegen sie die Hoffnung, dass sie in Zukunft einen politischen Status erlangen könnten, der ihnen eine Souveränität analog zu der Zone A im Westjordanland zusichert. Das wäre eine erhebliche Verbesserung gegenüber der aktuellen entwürdigenden Situation. 

Neueste Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung diese Hoffnung mit der Etablierung einer neuen politischen Ordnung verknüpft. Fast 80 % der Befragten vertrauen der Demokratie als Ordnung, die Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit garantiert. Das heisst, die Hoffnung auf ein besseres Leben wird auch mit politischen Erwartungen verknüpft. Um diesen Erwartungen zu entsprechen, muss jedoch auch ein politischer, partizipativer Prozess eingeleitet werden, der in einem Akt der Versöhnung und Übergangsgerechtigkeit den Abschied aus der alten Zeit ermöglicht.

Letzte Artikel

Der Papst und der Patriarch von Istanbul in Nizäa – Nur der Kaiser fehlte

Erwin Koller 4. Dezember 2025

EU berechenbarer als USA

Martin Gollmer 4. Dezember 2025

Dröhnendes Schweigen um Venezuela

Erich Gysling 1. Dezember 2025

Spiegel der Gesellschaft im Wandel

Werner Seitz 1. Dezember 2025

Bücher zu Weihnachten

1. Dezember 2025

Nichts Dringlicheres als die Rente?

Stephan Wehowsky 1. Dezember 2025

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Zurück zur Startseite
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.