Hektischer Stillstand prägt den Alltag im Bundeshaus. Bundes-, Stände- und Nationalrat arbeiten, streiten und reden zwar viel, doch je schneller sich die Welt ausserhalb der Schweiz und das menschliche Verhalten im Landesinnern verändern, desto grösser wird das Spannungsfeld zwischen den überfälligen Strategieanpassungen und den parteigeprägten Grabenkämpfen respektive protektionistischen Stillstandsregeln.
Niemand wirft unseren Bundespolitikerinnen und -politikern vor, sie arbeiteten nicht viel und engagiert. Doch die Traktandenlisten sind überladen mit Routinegeschäften und helvetischem Kleinkram.
Destabilisierende Tendenzen
Für strategische Planung, Reaktionen auf innenpolitische Gefahren und aussenpolitische Einflussnahmen oder gar Zeit für zukunftsfokussierte Beschlüsse bleibt entsprechend wenig Zeit. Man verharrt geschäftig, statt sich produktiv auf die Suche nach neuen Lösungen hinzubewegen. Aktuelles Beispiel: Während Jahren dreht sich ein zeitraubendes Hauptinteresse um parteigeprägte Propaganda zur eidgenössischen CH-EU-Bilaterale-III-Abstimmung, die irgendwann 2027 stattfinden wird.
Man wird den Eindruck nicht los, dass sich unsere Politikerinnen und Politiker primär an der Vergangenheit orientieren, als unser Land weitgehend verschont blieb von externem Druck und entsprechend direkten Einflussversuchen. Es ist jedoch ein Gebot der Stunde, sich auf zukünftige Herausforderungen zu konzentrieren. Seit Trumps Zolldiktat müssten die Alarmglocken läuten.
Volkswille oder Finanzinteresse?
Wie Adrian Vatter, Politologe, kürzlich aufzeigte, sind wir zwar stolz auf unsere direktdemokratischen Instrumente, übersehen aber vielfach, dass gerade diese Form der Partizipation erlaubt, unsere vielgerühmte helvetische Eigenart zu missbrauchen (NZZ am Sonntag). Als Beispiel zeigt Vatter auf, wie «gut finanzierte Akteurgruppen» Abstimmungskämpfe dominieren und beeinflussen können. «Ressourcenasymmetrien etwa beim Sammeln von Unterschriften oder in der Sichtbarkeit medialer Kampagnen können die Chancen von Initiativen und Referenden real beeinflussen.»
Wem das alles ein bisschen zu abstrakt tönt, hier meine persönliche Ergänzung: Beim epischen Abstimmungskampf um die Bilateralen III, d. h. einer stärkeren Anbindung der Schweiz an die EU, kämpft seit 2021 u. a. die «Kompass-Initiative» medienpräsent für ein Nein. Ihre drei Gründer sind die Milliardäre Alfred Gantner, Marcel Erni und Urs Wietlisbach von der Private-Equity-Firma Partners Group in Baar. Sie machen sich für ein doppeltes Mehr (Ständemehr) anstelle des Volksmehrs stark. Beobachter sind sich einig, dass dadurch die Chancen einer Ablehnung der Vorlage steigen. Im Klartext: Eine klare Minderheit könnte damit die grosse Mehrheit der Abstimmenden auf die Verliererseite verweisen.
Unser lieber Bundesrat
Seit Walter Thurnherr, ehemaliger Bundeskanzler, diesen Herbst aus dem Sitzungszimmer des Bundesrates geplaudert hat, können wir uns besser vorstellen, wie es dort so funktioniert. Das beginnt schon mal mit der lapidaren Feststellung, dass man sich dort «siezt, was eine gute Distanz schafft» (NZZ). Zudem wissen wir jetzt auch, dass es nicht möglich ist, eine Checkliste zu erstellen, die Auskunft über die wichtigste Eigenschaft eines Bundesrates gäbe.
Wenn Thurnherr der Meinung ist, als Bundesrat sollte man die Schweiz verändern respektive verbessern wollen, so bedauert er, dass nicht alle diesen Gestaltungswillen zeigten. Persönlich würde ich das ergänzen: Verändern, verbessern – wichtig scheint, dass im 21. Jahrhundert (im Gegensatz zu früher) diesbezüglich alles unter dem Licht der schnellen Auswirkungen auf unser Land passiert; als Reaktion auf politische Umwälzungen, im Hinblick auf die drastische Verkürzung der räumlichen und zeitlichen Distanzen.
Täuscht da der Eindruck, unsere bundesrätlichen Repräsentanten müssten täglich etwas gar viele Hände schütteln, Reden an «wichtigen» Anlässen halten oder mit ihrer Präsenz demonstrieren, wie wichtig die lokale Verbundenheit sei – und dass man all dies nur mit dem Bundesratsjet überhaupt bewältigen kann? Befürchten wir gar, dadurch bleibe zu wenig Zeit, um auf die Welt um uns herum zu achten? Betrieben wir doch früher eher eine gemütliche «Aussennichtpolitik» (Thurnherr), so sehen wir uns auch als kleines Land heute mit der ungemütlichen Situation konfrontiert, dass «uns ein unflätiger Präsident eines anderen Staates drastisch vor Augen führt, dass das Recht des Stärkeren aktuell mehr zählt als das Völkerrecht».
Kostspielige Leerläufe
Es wäre falsch, Handlungsdefizite nur im Zusammenhang mit unserer Aussenpolitik zu sehen. Auch in der heimischen Landwirtschaftspolitik – um ein Beispiel zu nennen – leisten wir uns Schwerverdauliches. Geradezu grotesk mutet da «das süsse Paradox» (NZZ) an: Die Behörden appellieren mit medialen Kampagnen an die Bevölkerung, aus Gesundheitsgründen weniger Zucker zu konsumieren. Gleichzeitig fördern sie mit Millionen Subventionen den Anbau von 1,5 Millionen Tonnen Zuckerrüben, der helvetischen Spezialität, um daraus auf nicht konkurrenzfähige Art Zucker herzustellen. Und man kann es kaum glauben: Um die hiesigen Zuckerfabriken auszulasten, wird ein Drittel der benötigten Rüben aus Deutschland importiert.
Les absents ont tort
In einem Land wie der Schweiz, wo Bürgerinnen und Bürger das Sagen haben, wäre es sicher falsch, Gründe für Schwächen unseres Politsystems nur bei Regierung und Parlament in Bern zu suchen. Wie die Politologen Rahel Freiburghaus und Adrian Vatter im Tages-Anzeiger erklärten, war – als Beispiel – bei der Abstimmung zur 13. AHV-Rente festzustellen, dass «das extrem asymmetrische Abstimmungsverhalten zwischen den Generationen ausschlaggebend war: Zwei Drittel der Älteren gehen an die Urne, zwei Drittel der Jungen bleiben zu Hause».
Warum das so ist? Es ist jedenfalls beunruhigend – und gerade für den schweizerischen Föderalismus kein gutes Omen.