Mit keinem geringeren Stoff als dem Jahrhundertroman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa bestreitet Pinar Karabulut ihr Zürcher Regiedebut als neue Ko-Intendantin. Die Erwartungen sind hoch, denn das Haus braucht einen Neustart.
Sie werden hundertmal gehört haben, dass man nach Lesung eines guten Romans gewünscht hat, den Gegenstand auf dem Theater zu sehen, und wieviel schlechte Dramen sind daher entstanden.
Goethe, Brief an Schiller vom 23. Dezember 1797
Ein Roman auf der Bühne, das ist gewiss auch schon gutgegangen, aber die Absturzgefahr ist erheblich. Gerade auch das Schauspielhaus Zürich hat in der jüngeren Vergangenheit Belege für Letzteres erbracht. Goethes übellaunige Bemerkung über «schlechte Dramen» deutet zwar an, solche Adaptationen seien gewünscht – von wem, sagt er jedoch nicht. Die Wünsche könnten durchaus von den Intendanzen ausgehen. Sie wollen ja Stoffe auf die Bühne bringen, mit denen sie beim Publikum auf Interesse und positive Erwartung zu stossen hoffen. Und Romane sind nun mal die primäre literarische Form des lesenden Publikums. Sie verhandeln alles, was Menschen interessieren kann, und so bilden denn Romane sowie weitere erzählende Dichtungen ein unerschöpfliches Reservoir potenziell bühnen- wie auch filmtauglicher Stoffe.
Das Schauspielhaus Zürich hat in jüngerer Zeit mit Literaturbearbeitungen nicht immer reüssiert. Mit Grauen erinnere ich mich an Bastian Krafts «Buddenbrooks»-Bearbeitung von 2017, die Thomas Manns Meisterwerk in temporeichem Klamauk ersäufte und obendrein buchstäblich mit der Motorsäge zerstückelte. Ein besonderer Tiefpunkt war dann das Gastspiel «Das neue Leben» des Bochumer Schauspielhauses auf der Pfauenbühne, dessen Referenz auf Dantes «Divina Commedia» einzig im infernalischen Lärm bestand, der unablässig über das Publikum hereinbrach (Februar 2023).
Wenn auch solchermassen geschädigt und gewarnt, entschieden wir uns doch, der Theaterneugier nachzugeben. Auch wollten wir uns nicht damit abfinden, das Schauspielhaus auf Dauer als No-go-Place abschreiben zu müssen. Mehrere positive Echos auf den seit Ende November im Spielplan stehenden «Gattopardo» taten ein Übriges: Am 19. Dezember besuchten wir die Vorstellung. Um es gleich vorwegzunehmen: Wir wurden nicht enttäuscht.
Eine Geschichte des kommenden Umbruchs
Pinar Karabulut wählte für ihren «Gattopardo» die ebenso grandiose wie anforderungsreiche Spielstätte des Schauspielhauses: die Schiffbauhalle. Deren theatralische Möglichkeiten kommen in der Inszenierung voll zum Tragen. Schon der Einzug des Publikums ist effektvoll. Indem die Besucher durch einen gewinkelten roten Korridor von hinten durch die weite Bühnenlandschaft in die Halle und zu ihren Plätzen in den breit gebauten ansteigenden Sitzreihen gelangen, bekommen sie ihren Ort im Geschehen zugewiesen.
Der Roman und das Stück erzählen vom beginnenden Untergang von Adel und Monarchie im späten 19. Jahrhundert und dem Aufstieg eines selbstbewussten Bürgertums vor der Folie des Risorgimento. Doch Tomasi di Lampedusa blickt durch die Ereignisse der italienischen Geschichte hindurch auf das Wesen von grossen Umbrüchen. Der junge Tancredi, der sich als Adliger lebensgierig in die revolutionäre Bewegung stürzt, erfasst den Zeitgeist in seinem Motto «Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss alles sich ändern». Dieser wiederkehrende Leitspruch ist gleichermassen hellsichtig wie illusionär und bringt damit die beschränkte Sichtweise der handelnden Figuren scharf zum Ausdruck: Ja, es muss sich alles ändern; doch bleiben, wie sie sind, werden die Zustände nicht.
Genau dies macht den Reiz und den literarischen Rang von «Il Gattopardo» aus: Wir beobachten jene historische sizilianische Gesellschaft, in der die Fundamente beben und die Paläste Risse bekommen, und wir sehen alle Arten von menschlichen Reaktionen auf diese Signale: vom erwartungsvollen Hochgefühl bis zum geflissentlichen Wegschauen, von depressiver Introversion bis zur illusionslosen Resignation. Dabei bleiben diese Antworten auf die allgemeine Unsicherheit meistens verdeckt, denn das gesellschaftliche Leben funktioniert ja trotz so ungeheuerlicher Anomalien wie der Heirat des fürstlichen Tancredi mit der dem arrivierten Bürgertum entstammenden Angelica scheinbar normal weiter.
Pinar Karabulut nutzt die Atmosphäre der ehemaligen Industriehalle, um eine Welt des kommenden Umbruchs heraufzubeschwören. Dabei tut der konzeptuell überzeugende Bühnenbau, in dem die Figuren sich regelrecht verlieren können, mit einzelnen visuellen Signalen des Guten etwas zu viel: Es wäre nicht nötig, in einer Wand des Schlosses Salina ein riesiges Loch klaffen zu lassen. Die Zeichen des Niedergangs sprechen vor allem dann, wenn man sie entdecken darf und sie einem nicht aufgedrängt werden.
Grossräumige Choreographie
Doch das ist Detailkritik. Angesichts des grossartigen Ensemblespiels auf der riesigen Szene darf man sie vergessen. Es sind vor allem diese perfekt choreografierten Strecken, in der die Regisseurin eine vielversprechende Handschrift zeigt. Da laufen manchmal gleichzeitig an vier, fünf weit auseinanderliegenden Schauplätzen unterschiedliche Interaktionen, die Dialoge springen von hier nach dort, werden untermalt von Nebenszenen, die sich sotto voce oder gar lautlos abspielen. Der Besucher kann nicht alles mitbekommen. Er wird in die Lage des Beobachters eines dichten Geflechts von Vorgängen versetzt, also genau in die Position, die mit jedem Versuch verbunden ist, gesellschaftliche Prozesse zu verstehen.
Dieser atmosphärischen Stärke der Inszenierung steht eine dramaturgische Schwäche gegenüber. Zumindest wer Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman gelesen hat (bei mir ist das sechs Jahre her und der Leseeindruck ist überaus lebendig geblieben), wird dessen vielschichtige und eindringliche Schilderung einer Umbruchszeit im Bühnenstück nur als müdes Echo wiederfinden. Dieser Mangel liegt vermutlich nicht zuletzt an einer strukturellen Schwierigkeit, mit der Bühnenfassungen von Romanen generell zu kämpfen haben – Goethe hat das offensichtlich genauso gesehen. Es liegt aber auch an der Figurenzeichnung in Pinar Karabuluts Regie. So sind vor allem die auftretenden Männergestalten fast schon zum Verwechseln ähnlich (mit Ausnahme von Peter Knaack als Pater Pirrone, der diesen als Karikatur gibt). Alle anderen sind alterslose, elegante, schlanke, stimmlich ähnliche und sprecherisch austauschbare Figuren.
Mindestens die Hauptfigur des Don Fabrizio, Fürst Salina, müsste mit anderer physischer Gewichtigkeit auftreten, mit raumgreifender Leiblichkeit und stimmlichem Machtanspruch. So untadelig die schauspielerische Leistung Markus Scheumanns an sich sein mag, kann er doch nicht den Raum in Anspruch nehmen, den diese Rolle bietet und verlangt.
Grandioses Finale
Trotzdem ist es dieser Markus Scheumann, der mit der Schlusspassage dem Stück den Höhepunkt verleiht. Am Ende steht Don Fabrizio allein auf der weiträumigen Bühne und rezitiert direkt den Roman, genauer dessen im Druck siebzehn Seiten langen siebten Teil «Der Tod des Fürsten». Das dauert vielleicht eine halbe Stunde, nachdem vorher schon drei Stunden gespielt wurde. Und doch konnte man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Der Fürst erzählt von den Anzeichen schwindender Lebenskraft, die er seit einiger Zeit schon gespürt hat, berichtet von einer unüberlegt angetretenen Reise nach Neapel, um bei einem Spezialisten Hilfe zu holen, von der entsetzlichen Rückfahrt mit der Bahn, der Ankunft in Palermo, wo er von den Seinen als Todgeweihter nicht nach Hause ins entfernte Schloss, sondern in ein örtliches Hotel gebracht wird, er monologisiert über Erinnerungen, Ohnmachten, scheinbare Erleichterungen – und indem er alles in der dritten Person, wie von Tomasi di Lampedusa vorgegeben, formuliert, steht er gleichsam neben sich, bewegt er sich von sich weg und auf den Tod zu.
Dieser Schlussmonolog ist ein grosses Theaterereignis, das ein paar Unstimmigkeiten der Inszenierung bei Weitem aufwiegt und vergessen macht. Mit solchen Highlights gelingt der Neustart des Hauses.