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Sprach-Akrobatik

Heimweh nach Idomeni

27. Mai 2016
Stephan Wehowsky
Sprachliches Unvermögen führt ungewollt zum Zynismus.

Spiegel Online hatte am Donnertag eine Überschrift, die einen buchstäblich sprachlos werden lässt: „Heimweh nach Idomeni“.  In Zentraleuropa, wo man Idomeni nur aus dem Fernsehen kennt, wurde immer von einem „Schandfleck Europas“ gesprochen, dessen „Bilder die Menschen nicht länger ertragen“ könnten, wie es in den Leitartikeln der grossen europäischen Zeitungen heisst. Deswegen musste Idomeni ja auch geräumt werden.

Und nun weckt es angeblich Heimwehgefühle bei denjenigen, die jetzt aus Schlamm und Dreck vertrieben worden sind. Warum? Deswegen, weil die Behausungen, die die Griechen in aller Eile und eigener Not den Flüchtlingen im Zuge der Räumung „anbieten“, offensichtlich noch fürchterlicher sind als die "Zelte", Matten und nassen Decken und der Mangel an einer sanitären Mindestversorgung in Idomeni.

Die Flüchtlinge hätten dort wenigstens so etwas wie eine Gemeinschaft gebildet, sozusagen einen allerletzten Rest von Menschlichkeit, und der sei nun auch verloren, heisst es in Spiegel Online. - Regen wir uns nicht über Journalisten auf, schauen wir auf die Sprache. Wenn man nicht aufpasst, kann sie zum Zynismus verleiten.

Treiben wir die zynische Botschaft auf die Spitze: Auch in Nässe, Schlamm und Kälte, auch in Hunger und Krankheit gibt es menschliche Nähe. Und ist es nicht das, wonach wir uns alle sehnen? Na also, so schlecht kann es in Idomeni nicht gewesen sein.

Das haben die Kollegen von Spiegel Online ganz sicher nicht gemeint. Aber sie sind in eine sprachliche Falle getappt. Auch im buchstäblich allerletzten Dreck lassen sich Liebe, Verlässlichkeit oder Sinn finden. Aber diese Begriffe haben dort eine völlig andere Bedeutung als in einer Familientherapie für Kassenpatienten oder dem Coaching für verunsicherte Führungskräfte. Auf den Kontext kommt es an. Für diese Unterschiede reicht das sprachliche Verständnis einiger Journalisten offenbar nicht aus. Die Menschen, von denen sie berichten, haben ganz sicher „Heimweh“. Aber das ist viel bitterer und schmerzender als das vermeintliche Heimweh nach Idomeni. Denn sie haben ihre Heimat verloren – mit allem, was ihnen kostbar ist.

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