
Warum radikalisieren sich Jugendliche im Netz und werden zu Terroristen? – Darüber diskutiert Tim Guldimann mit Ahmad Mansour, Geschäftsführer seiner «Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention» und Jamuna Oehlmann, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus.
Wie erklären sich die Terroranschläge von immer jüngeren Einzeltätern? Dazu Ahmad Mansour: «In Biographien, die ich begleitet habe, fängt es eigentlich immer nicht religiös an, sondern mit einer persönlichen Krise, (…) mit der Suche nach Identität und endete in der (islamistischen) Ideologie. (… Deshalb sehe) ich diese Elemente auf psychologischer Ebene.»
Ist damit die individuelle Voraussetzung oder das islamistische Angebot entscheidend? – Jamuna Oehlmann: «Beides ist richtig: Die individuelle Opferrolle, (…) aber auch das grössere Bild: Junge Leute, die hier aufgewachsen sind, (…) mit Migrationsgeschichte, (…) Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen oder auch Krisen, die sie in die Arme von islamistischen Akteuren treiben. (…) Diese Jugendlichen suchen nach einer Aufgabe, (…) nach Halt und diesen Halt bekommen sie in einer islamistischen Gemeinschaft. Junge Leute radikalisieren sich, weil ihnen in Deutschland etwas fehlt.»
Mansour lehnt die «Diskriminierung als eine zentrale Ursache für die Radikalisierung (ab …). Das tun wir beim Rechtsextremismus, eine fast gleiche Ideologie mit (…) vielen Parallelitäten: Neigung zu Autorität, Ablehnung von Gleichberechtigung von Mann und Frau, toxische Männlichkeit, Antisemitismus (…): Da nehmen wir die Leute in die Verantwortung und suchen nicht nach einer Entschuldigung.» Er erzählt seine eigene Erfahrung als Jugendlicher: «Als ich anfing, zu diesen Gruppen zu gehen, war nicht das Entscheidende der Koran oder der Islam an sich. Ich wurde vorher gemobbt und auf einmal sagte der Imam: ‘Du gehörst zu einer Generation, die die Welt beherrschen wird‘, und das gab mir ein Selbstwertgefühl. (…) Es war ein Gesamtpaket, das hat das alles super attraktiv gemacht.»
Oehlmann «Wir haben zu lange die Sozialen Medien als Ort, der sich mit Singen und Tanzen und Life-style Themen befasst, abgetan und nicht die Ernsthaftigkeit verstanden, dass hier Meinungsbildung stattfindet, (…) dass Jugendliche viele Stunden am Tag online verbringen.»
Hat sich in den letzten Jahren die islamistische Gemeinschaft in Deutschland vergrössert? – Oehlmann: «Absolut, weil das Internet so viele Möglichkeiten für islamistische Akteure bietet, Jugendliche zu rekrutieren mit dem Schwarz-Weiss-Denken, das sich im Internet gut verbreiten lässt, in kurzen Videos auf Tik-Tok oder Instagram. (…) Auch den Islam zu erklären in 30 Sekunden, das funktioniert eben im Internet. (…) Die Algorithmen sind ein ganz zentraler Faktor (…): Man landet relativ schnell in Untiefen islamistischer Ideologien. (…) Islamistische Akteure kann man eben als ‘early adopters‘ bezeichnen.»
Mansour zur gezielten Rekrutierung von Terroristen: «Wenn man Leute braucht, die einen Anschlag machen, (…) das sind Leute, die einen gewissen Narzissmus und eine gewisse Psychopathie mitbringen (…) Das sind dann die Leute, die (…) Bilder machen mit geköpften Menschen und Menschen live ermorden. Das sind dann Leute, die in Europa Anschläge durchführen.»
Journal21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.