
Sorgsam schmiegt er sich an den Rigi-Südhang, der einst kleinste freie Staat der Welt: Gemeint ist Gersau, die «altfrye Republik» mit eigener Landsgemeinde, eigener Währung und eigener Armee. Auf Spurensuche in einem historischen Unikum.
Wenn auf der Autobahn A2 zwischen Flüelen und Luzern nichts mehr geht, so geht sicher noch der Seeweg. Mehr als einmal bin ich so aus dem Nidwaldischen ausgezogen oder dorthin zurückgekehrt: via Fähre zwischen Gersau und Beckenried. Das Schiff als einziges Transportmittel – wie bis in die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Lange war die kleine Welt hinter Bürgenstock und Lopper ohne mühseliges Umsteigen nur per Schiff erreichbar – Nidwalden: ein Flecken Erde «zwische See und heeche Bärge». (1)
«Und rings die Herrlichkeit der Welt!»
Das Gleiche gilt für Gersau: Die «Riviera des Vierwaldstättersees» liegt abgeschlossen in einer sanften Mulde zwischen Gersauerstock, Rigi Scheidegg und Hoflue. Lange war sie nur per Nauen oder über einen kleinen Passübergang von Lauerz und Seewen her erreichbar. Erst 1867 führte eine Fahrstrasse von Brunnen nach Gersau, zwanzig Jahre später auch von Vitznau. Das isolierte Dorf war nun auch mit dem Fuhrwerk erreichbar.
Doch die Verbindung zum See blieb. Bei jedem Wetter ist sie ein Erlebnis, die gemächliche Tuckerfahrt von Beckenried über den See ins idyllische Kleinod Gersau. Beim Anblick der vielfältigen Naturkulisse ergeht es mir ähnlich wie Goethe: «Und rings die Herrlichkeit der Welt!» So hat er auf der ersten Schweizerreise 1775 dem Tagebuch sein Empfinden anvertraut. Viel zu schnell ist die beschauliche Überfahrt jeweilen vorbei.
Ein staatspolitisches Faszinosum
Gersau: Oft reicht die Zeit für einen kurzen Spaziergang dem See entlang, dann hinauf zur barock-klassizistischen Pfarrkirche St. Marzellus und von dort zum «Alten Rathaus» der «altfryen Republik». Die Brunneninschrift verrät etwas vom Urschweizer Freiheitsgeist: «Gersau bleibt Gersau, ein freies Volk, ein freies Land».
Ein pathetisches Epigraf! Aber so unrecht hat die Inschrift nicht. Während fast 370 Jahren bewahrte Gersau eine weitgehende politische Autonomie. Nicht umsonst sprach man von der «kleinsten Republik der Welt». (2) Lediglich 24 km² gross war dieser Mini-Freistaat. Doch er besass alles, was ein selbständiges Staatsgebilde ausmacht: eine Verfassung, eine eigene Verwaltung und ein eigenes Gericht. Es konnte über Leben und Tod entscheiden. Zeichen dieser hohen Gerichtsbarkeit waren Richtstätte und Galgen.
Zugewandter Ort der Alten Eidgenossenschaft
Kernelement der Kleinstrepublik Gersau war die Landsgemeinde; zur Teilnahme verpflichtet waren alle männlichen «Dorf- und Kirchgenossen» ab 14 Jahren. Absenz hatte eine Geldstrafe zur Folge. Die Männer im Ring wählten den Landammann und die Ratsmitglieder, und sie stimmten über Sachgeschäfte ab. Dabei galt der Grundsatz, dass «dasjenige, was der mehrere teil ausmacht, der mindere halten soll». (3)
1359 wurde Gersau als Zugewandter Ort in den Bund der Alten Eidgenossenschaft aufgenommen. Das Dorf stand nun unter der Schutz- und Schirmherrrschaft der vier Waldstätte mit Uri, Schwyz, Unterwalden und Luzern. Gersau blieb aber selbständig und war kein gleichberechtigtes Mitglied der Eidgenossenschaft. Allerdings stellte der Kleinstaat ein Truppenkontingent auf Abruf bereit. Darum kämpften bei der Schlacht von Sempach 1386 Gersauer auf eidgenössischer Seite. Als Beutestück brachten sie das Banner des Grafen Rudolf von Hohenzollern zurück.
Gersau als reichsunabhängiger Staat wie Bern und Zürich
Reichsunabhängig sein und damit direkt dem König oder Kaiser des Heiligen Römischen Reiches unterstehen – und nicht einem regionalen Fürsten, das war das Ziel damaliger Städte und Länder. Dass Gersau – wie beispielsweise Bern und Basel – den Status eines reichsunmittelbaren Freistaates mit allen Freiheiten, Rechten und Privilegien erhielt, erstaunt noch heute. 1433 stellte Kaiser Sigismund die Urkunde aus: Gersau wurde eine selbständige Einheit, eine freie Republik. (4)
Mit dem Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798 verschwand auch die «Altfrye Republik» Gersau. Die helvetische Verfassung und die französischen Revolutionstruppen setzten den Freistaaten ein schnelles Ende. Doch mit der Restauration von 1814 proklamierte Gersau erneut seine Unabhängigkeit. (5) Die republikanische Freiheit währte aber nur kurz. Gegen den Willen der Bevölkerung wurde Gersau 1818 ein Bezirk des Kantons Schwyz.
Hintergründiges im Vordergründigen erkennen
Gersau – diese kleine Republik: «Ein freies Volk, ein freies Land», so verkündet es der Brunnen vor dem majestätischen Rathaus von 1745. Und zugleich war der Zwergstaat am Rigifuss ein Zugewandter Ort der Alten Eidgenossenschaft wie beispielsweise die Abtei Engelberg oder die Stadt St. Gallen, das Oberwallis oder «l’État et la République de Genève».
Die Schweiz, ein Maximum an Komplexität auf einem Minimum an Raum – damals wie heute: Das geht mir beim Dorfspaziergang durch den Kopf. Es ist ein Eintauchen in einen historischen Kosmos, ein Verweilen mit Blick aufs Damalige im Heutigen; dabei lässt sich Hintergründiges im Vordergründigen erkennen und im Neuen das Alte aufspüren. «Es ist ein gross Ergetzen, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen», heisst es in Goethes Faust. Das gilt auch im historischen Unikum von Gersau.
Ab und zu ist die A2 verstopft. Umwege lohnen sich!
(1) «Zwischen See und heeche Bärge» – So beginnt das Lied von Heinrich J. Leuthold (1910–2001); es wird auch als «Nidwaldner Hymne» bezeichnet.
(2) Ulrich im Hof: Ancien Régime. In: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, Zürich: Verlag Berichtshaus, 1977, S.758
(3) Vgl. Albert Müller: Gersau – Unikum in der Schweizer Geschichte. Zürich: Verlag Hier und Jetzt, 2018.
(4) Gersau. In: Historisches Lexikon der Schweiz HLS: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/000711/2006-12-08/ [abgerufen: 28.06.2025]
(5) Jean-Charles Biaudet: Der modernen Schweiz entgegen. In:Handbuch der Schweizer Geschichte. Bd. 2: Zürich: Verlag Berichtshaus, 1977, S.878