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Sprach-Akrobatik

„Gerade“ macht gerade Karriere

7. September 2018
Urs Meier
Haben wir mit unseren Klicks auf Artikel gerade eine sprachliche Marotte gepuscht?

Einige Fundstücke aus Schweizer Medien, gesammelt im vergangenen Monat:

  • „Make-up für Männer liegt in China gerade im Trend.“
  • „Südamerika erlebt gerade die grösste Flüchtlingskrise seiner Geschichte.“
  • „Ein Besuch in einem Ort, wo gerade jeder jedem hilft.“
  • „Früher erlebten Frauen die meiste Gewalt von ihren Partnern. Das scheint sich gerade zu ändern.“
  • „Kurt Gerber liebt das LKW-Fahren, aber sein Berufsstand erlebt gerade schwierige Zeiten.“
  • „Zu Besuch auf einem Hof, der gerade von Bio auf Demeter umstellt.“
  • „In Deutschland stürmt gerade ein Partisanenlied aus dem Zweiten Weltkrieg die Charts.“
  • „Gebaut von einem Start-up, das gerade Google und Facebook überholt.“
  • „Verlieren gerade alle reihenweise ihren Menschenverstand?“

Es kann Verschiedenes heissen, dieses Adverb „gerade“ (die üblichen Bedeutungen sind hier aufgelistet). Seit kurzem ist es ein Medien-Modewort und meint „gerade jetzt“, „gegenwärtig“. Auffällig ist der bevorzugte Ort: Das Wörtchen steht fast immer im Lead, dem kurzen Orientierungstext unter der Überschrift. Leads haben die Funktion, ihren Artikel anzupreisen, indem sie zeigen, was vom Inhalt zu erwarten ist. Der Lead soll Neugier wecken und so zum Klicken und Lesen animieren. Anscheinend traut man dem Wörtchen „gerade“ eine speziell verkaufsfördernde Wirkung zu.

Es ist selbstverständlich nicht neu, dass Medien auf zeitliche Nähe drängen zu dem, was sie berichten. Der Erste sein, den Primeur haben, das ist im Journalismus schon immer die gesuchte Trophäe. Radio und TV haben hier mit der Form des Live-Berichts einen absoluten Standard gesetzt, an den sich seit dem Internet auch die Textmedien heranpirschen. Live-Ticker bei Anlässen von besonderem Interesse sind der extreme Ausdruck solchen Bemühens.

Doch Instant-Information über aktuell Geschehendes reicht im Verdrängungs-Wettkampf schon nicht mehr. Wer im Ozean der News auffallen will, muss den Blick ins verborgene Kommende freigeben. Deshalb all die Prognosen von Experten, die Umfragen und Exit-Polls. In dem „gerade“ der Nachrichten-Leads vibriert leise die Erregung der Vorausschau: Indem die Beobachter auf dem Medienposten aufdecken, was sich im Augenblick – oder eben: gerade – anbahnt, sind sie immer auch Dingen auf der Spur, die über das Heute hinaus weiterlaufen werden. Mit diesem „gerade“ markieren sie Momente, in denen das Werden kommender Dinge zu beobachten ist.

Vielleicht – und das ist nun Spekulation – werden Artikel, bei denen „gerade“ im Lead steht, häufiger geklickt als andere. In Newsrooms haben laufende Erfolgsmessungen bekanntlich nicht geringen Einfluss auf den Content-Ausstoss. Dieses Feedback greift inzwischen auch in Details wie Reizwörter von Headlines, Bebilderung, Platzierung und anderes ein. Es wird vermutlich dazu führen, dass wir in den Medien nicht nur bei Themenwahl, Personen und Meinungen, sondern auch bei Sprache und Haltung zunehmend unseren eigenen Erwartungen gegenüberstehen.

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