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Für Deutschland steht viel auf dem Spiel

26. September 2025 , Berlin
Thomas Burmeister
Thomas Burmeister
Friedrich Merz
Friedrich Merz am 24. September 2024 im Deutschen Bundestag (Keystone/EPA/Clemens Bilan)

Gelingt der Aufschwung? Oder stolpert Europas grösste Volkswirtschaft in einen Sumpf aus Milliardenschulden? Zweifel am gross angekündigten «Herbst der Reformen» mehren sich. Sicher scheint nur eines: Wenn Friedrich Merz und die schwarz-rote Koalition scheitern, könnte Deutschland schon in wenigen Jahren ein anderes Land sein. Ein anderes, kein besseres.

In der DDR gab es einen Witz, der auf die permanenten wirtschaftlichen Probleme des Landes anspielte: Wer sind die vier grössten Feinde des Sozialismus? Antwort: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. In der Bundesrepublik bereitet derzeit der Herbst grosse Sorgen. Und wie es aussieht, werden sie den Winter über anhalten und wohl auch im kommenden Frühling und Sommer noch längst nicht verschwunden sein. 

Einen «Herbst der Reformen» hatte Bundeskanzler Friedrich Merz wenige Wochen nach seinem Amtsantritt im Frühjahr 2025 in Aussicht gestellt. Er hat damit hohe Erwartungen geweckt. Im Eiltempo werde seine Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD zentrale Reformprojekte auf den Weg bringen. «Es geht jetzt Schlag auf Schlag», so Merz nach der ersten Sitzung des Koalitionsausschusses Ende Mai. 

In der «Süddeutschen Zeitung» legte der Kanzler nach: «Wir werden im Herbst entscheiden zu den wichtigen Fragen der Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik, zur Einführung einer ‹Neuen Grundsicherung› sowie den Reformen bei Rente, Kranken-, Pflegeversicherung.» 

Ernüchterung und Enttäuschung

Inzwischen macht sich Ernüchterung breit, auch Enttäuschung. Der Herbst hat zwar gerade erst begonnen und bis zur Wintersonnenwende sind es noch einige Wochen. Aber im politischen Berlin glaubt anscheinend kaum noch jemand, dass die schwarz-rote Koalition in der Lage ist, die Erfüllung der wichtigsten Kanzler-Versprechen noch vor 2026 ernsthaft – und vor allem spürbar für das Wahlvolk – in Angriff zu nehmen.

Viel Rhetorik, wenig Konkretes, die Wiederholung bekannter Lagebeschreibungen und Versprechen, mithin: heisse Luft – so liesse sich der Tenor vieler Kommentare nach dem Auftritt des Kanzlers in der jüngsten Generaldebatte des Bundestages zusammenfassen. 

Spott für den «Ankündigungskanzler»

«Nach viereinhalb Monaten im Amt droht Friedrich Merz ein neues Image: das eines Ankündigungskanzlers», spottete «Die Zeit». Die Bundesregierung, die – mit Hilfe einer Grundgesetzänderung – so viel Schulden machen kann wie keine vor ihr, habe «bislang weder bewiesen, dass sie so wie versprochen mit dem Geld umgeht, noch dass sie auch sparen kann». Was der «Herbst der Reformen» konkret bringen soll, sei immer noch unklar. 

Zur Illustration verweist «Die Zeit» auf zwei «unglückliche Impressionen» der vergangenen Tage: 500 Milliarden Euro Sondervermögen für Infrastruktur habe die Regierung zur Verfügung – aber kein Geld für neue Strassen und Schienen. Und aus einem Topf für «zusätzliche» Investitionen würden in Wahrheit Milliarden an längst eingeplante Haushaltsposten fliessen.

Ein Fest für die Opposition 

Was für ein Fest für die Opposition, besonders für Linksaussen und Rechtsaussen! Kein Wunder, dass die «Bild»-Zeitung nach der Bundestagsdebatte zu berichten wusste: «In der Union wächst der Unmut über Kanzler Friedrich Merz und seine Dauer-Ankündigungen. (…) Die eigenen Abgeordneten gehen mittlerweile auf Distanz.» 

So habe Fraktionschef Jens Spahn intern die Losung ausgegeben, Erwartungen herunterzuschrauben und künftig nicht mehr öffentlich vom «Herbst der Reformen» zu sprechen. Bis Ende des Jahres, habe Spahn erklärt, werde es jedenfalls keine wirklich grossen Reformschritte mehr geben. Ergebnisse der verschiedenen mit konkreten Vorschlägen beauftragten Reformkommissionen sind wohl kaum vor Anfang 2026 zu erwarten.  

SPD scheint keine Eile bei Sozialreformen zu haben 

Für die von Wirtschaftsexperten als besonders dringlich angesehene Reform des Sozialstaates dürfte der Zeithorizont ohnehin weiter in Richtung Herbst 2026 verschoben werden. Sozialministerin Bärbel Bas von der SPD vermittelt jedenfalls nicht den Eindruck, es mit Vorschlägen etwa zu einem echten Kurswechsel beim sogenannten Bürgergeld – eines der Wahlversprechen von CDU und CSU – besonders eilig zu haben.  

Immerhin gibt es die Hoffnung, bis zum Jahreswechsel ein paar kleinere Schritte in die richtige Richtung vorweisen zu können. Beim «Planungsbeschleunigungsgesetz» (wichtig unter anderem für einen schnelleren Ausbau des Strassennetzes) zum Beispiel oder beim Abbau der Bürokratie in der Wirtschaft, unter der Deutschlands Unternehmen seit Jahren leiden. Hoffnungen auf eine Stimmungsverbesserung verbinden Politiker des Regierungslagers auch mit der ab 2026 steigenden Pendlerpauschale, wodurch für viele Berufstätige die Steuerbelastung ein Stück weit sinken dürfte. 

Ein Lichtstreif am Horizont

Zudem haben die führenden Forschungsinstitute der deutschen Wirtschaft jetzt einen Lichtstreif am Horizont ausgemacht. Sie erwarten, dass in Deutschland in den kommenden zwei Jahren wieder eine gewisse Dynamik zu spüren sein wird. Für 2026 wird mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,3 Prozent gerechnet, für das Jahr danach von 1,4 Prozent. Immer vorausgesetzt allerdings, dass die Bundesregierung tatsächlich Strukturreformen durchsetzen kann, vor allem bei den Sozialsystemen.

Doch würde das ausreichen, um die Partei wieder kleiner zu machen, die seit Jahren am stärksten von den Fehlern, Schwächen und Streitigkeiten der jeweiligen Regierungen in Berlin profitiert hat? «Halbieren» wollte Merz die Alternative für Deutschland; heute liegt sie in Umfragen gleichauf mit der CDU oder sogar vor ihr auf dem ersten Platz. 

Lamentieren über Methoden der AfD bringt nichts

Das Lamentieren darüber, dass die AfD nur über alles meckern und Ressentiments gegen Migranten verbreiten müsse, um Stimmen einzufangen, kann ihren Marsch in Richtung Macht offenkundig nicht bremsen. Früher oder später, hatte AfD-Chefin Alice Weidel kürzlich nach dem Erfolg ihrer Partei bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen erklärt, werde man nicht mehr auf Koalitionspartner angewiesen sein, um regieren zu können.

Bezogen auf den Bund mag das utopisch anmuten. In den Ländern, vor allem im Osten, kommt die AfD diesem Ziel jedoch näher. Ein Beispiel: Laut einer Umfrage des Instituts «infratest dimap» ein Jahr vor den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern (20. September 2026) wollen dort 38 Prozent der Befragten ihr Kreuzchen bei der AfD machen. Sie könnte demnach die mit Abstand stärkste Kraft im deutschen Nordosten werden. Neue Landesparlamente werden im kommenden Jahr auch in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Berlin gewählt. Überall wird mit Zuwächsen für die Rechtspopulisten gerechnet.

Ist das Vogel-Strauss-Politik?

Das hindert die Union bislang nicht, starr an ihrer Brandmauer gegen Rechtsaussen festzuhalten – und dabei die Daumen zu drücken, dass die in Aussicht gestellten Reformen funktionieren und rechtzeitig bei Wählerinnen und Wählern für bessere Stimmung sorgen werden. Ist das Vogel-Strauss-Politik? Oder kann das tatsächlich funktionieren? Wohl nur, wenn Schwarz-Rot sich entschlossen auf die rasche Umsetzung ihrer im Koalitionsvertrag formulierten Ziele konzentriert – und ohne Wenn und Aber an einem Strang zieht statt von einer Stichelei in die nächste zu taumeln. 

Vorgenommen haben sich die Koalitionäre das nicht nur einmal. Was passieren könnte, wenn es nicht gelingt, hat der prominente Journalist und bestens vernetzte Kenner der Berliner Politszene Robin Alexander kürzlich im Podcast mit dem Namen «Machtwechsel» mit einer spöttischen Bemerkung deutlich gemacht, die – ungewollt – an den Jahreszeiten-Witz aus der DDR erinnerte: «Und wenn wir schon bei Jahreszeiten sind, in der Union geht dieses Bonmot um: Es kommt der Herbst der Reformen, dann kommt der Winter des versprochenen Aufschwungs und dann kommt der Frühling der Neuwahlen.»

«Letzte Chance» – Robin Alexanders ernste Warnung

Absolut ernst gemeint ist hingegen die Warnung, mit der Alexander sein neues Buch «Letzte Chance: Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie» enden lässt: «Die AfD stellt nicht nur die Erinnerungskultur an die nationalsozialistischen Verbrechen in Frage, sondern relativiert immer wieder auch die zweite deutsche Diktatur, die DDR. Anders als rechtspopulistische und sogar postfaschistische Parteien in anderen europäischen Ländern geht der Aufschwung der AfD nicht mit einer Mässigung oder Selbstaufklärung einher. (…) Ein Deutschland, in dem die AfD politische Macht bekäme, wäre nicht wiederzuerkennen. Nicht nur für Friedrich Merz und seine neue Regierung steht viel auf dem Spiel.»

Buchinformation: Robin Alexander: Letzte Chance: Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie. Siedler, Berlin 2025, 394 S., auch als e-Book

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