
Wie greifbar ist Friedrich Merz? Wie kann der Mann beschrieben werden, der einst von Angela Merkel weggebissen wurde, in die Wirtschaft wechselte, um viele Jahre später erst im dritten Anlauf CDU-Parteivorsitzender zu werden? Und schliesslich Kanzler. Robin Alexander zeichnet das Porträt eines Mannes, der hinter seiner Fassade viel verletzlicher ist, als seine Auftritte vermuten lassen.
Spannender könnte das Buch nicht beginnen. Der erste Satz lautet: «Fünf Tage nach seinem Wahlsieg bricht für Friedrich Merz eine Welt zusammen.» Eben noch hatten ihm Parteifreunde in Hamburg kurz vor der Bürgerschaftswahl als künftigem Bundeskanzler zugejubelt. Nun aber erfährt er auf dem Weg ins Wochenende von dem desaströsen Auftritt Trumps im Oval Office anlässlich des Besuchs von Wolodymyr Selenskyj. Als er sich das fast vierzigminütige Video angeschaut hat, ist ihm klar, dass Europa von nun an auf sich allein gestellt sein wird.
Tricks und Kompromisse
Allerdings sagt Merz im Wahlkampf nicht, was das haushaltspolitisch für ihn bedeuten wird. Er tut so, als ob er an der Schuldenbremse festhalten wolle, um nach der Wahl radikal umzusteuern. Enttäuschte Wähler sehen darin den Bruch eines zentralen Wahlversprechens, aber es soll noch viel dicker kommen: Um überhaupt die gigantischen neuen Schulden aufnehmen zu können, ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, für die Merz nur im alten Bundestag, nicht aber in der Zusammensetzung des neuen die nötigen Stimmen zusammenbekommt. Detailliert beschreibt Robin Alexander die vielen Sondierungen, Tricks und Kompromisse, an deren Ende der alte Bundestag mit Hilfe der viel geschmähten Grünen die gigantische neue Schuldenaufnahme beschliesst.
Welches Bild bietet Friedrich Merz in diesen Vorgängen? Da ist einmal eine starke, auch emotional unterfütterte Überzeugung, dass Europa fundamental bedroht ist und unmittelbar alles Erdenkliche zur Rettung einleiten muss. Da ist Merz so authentisch wie ein Politiker nur sein kann. Auf der anderen Seite gibt es Rücksichtnahmen. Merz verschweigt seinen Plan im Wahlkampf, um keine Wählerstimmen zu verlieren. Trotzdem ist sein Wahlergebnis mit 29 Prozent viel schlechter, als vorher prognostiziert worden war. Und dann stürzt sich Merz in höchst komplizierte Verhandlungen mit den politischen Mitstreitern und Gegnern, um den bisher verschwiegenen Plan umzusetzen. Dazu benötigt er die Hilfe diverser Politprofis, die politisch weitaus erfahrener sind als er, der über keinerlei Praxis in einer politischen Administration verfügt.
Unerwartetes Desaster
Noch zweimal zeigt sich dieses Muster in aller Deutlichkeit. Nach den Messerattacken von Magdeburg, Mannheim, Bad Oeynhausen und Solingen, die allesamt von Ausländern begangen worden sind, ist Merz auch persönlich zutiefst getroffen und fordert eine radikale Wende in der Ausländerpolitik: Grenzkontrollen, Zurückweisungen, Abschiebungen. Das alles sind rechtlich höchst fragwürdige Massnahmen, für die sich auch in den demokratischen Parteien der Mitte nicht alle Abgeordneten gewinnen lassen. Und der Krach mit den betroffenen Nachbarländern ist vorprogrammiert. Noch als Kanzlerkandidat spannt Friedrich Merz in seinem Furor für die entscheidende Abstimmung mit der AfD zusammen. Dieselbe AfD, von der er gesagt hat: «Diese Partei ist ausländerfeindlich. Diese Partei ist antisemitisch. Wir haben mit diesen Leuten nichts zu tun.» Wie prinzipienfest ist Friedrich Merz?
Als er im Deutschen Bundestag zum zehnten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt werden soll, kommt es zum unerwarteten Desaster: Er erhielt nicht die erforderliche Mehrheit. Robin Alexander beschreibt noch einmal, wie komplex und anspruchsvoll es war, in kürzester Zeit die rechtlichen Grundlagen dafür zu schaffen, dass noch am selben Tag eine zweite Abstimmung stattfinden konnte. Dazu wurden die Stimmen von einer der beiden Parteien benötigt, gegenüber denen die CDU/CSU eine «Brandmauer» errichtet hatten: AfD und «Die Linke». In diesem Fall ging «Die Linke» auf das Werben der CDU ein, und Merz erhielt schliesslich die erforderliche Mehrheit.
Erstklassige politische Lektüre
Robin Alexander gelingt es, diese Vorgänge äusserst packend zu erzählen und zu analysieren. Seine Augen und Ohren scheinen überall zu sein. Schon sein Buch über den Niedergang von Angela Merkel und den «Aufstieg» von Olaf Scholz bestach durch diese Beobachtungsgabe. Nun besteht aber das Problem, dass sich von Friedrich Merz noch nicht allzu viel erzählen lässt. Ein Buch über ihn wäre ein vergleichsweise schmaler Band, wenn man nicht Kindheit und Jugend und seine Zeit bei Blackrock und vielleicht noch seine Erlebnisse als Privatpilot ausbreiten will. Um diesen Mangel zu beheben und auf beachtliche 384 Seiten zu kommen, schildert Robin Alexander das ganze Elend der Ampel und bietet damit erstklassige politische Lektüre.
Zudem bietet diese Zeit, während der Merz noch auf seinen grossen Auftritt wartet, die Vorgeschichte der Probleme, die Merz in seiner Amtszeit bearbeiten muss. Noch wichtiger ist, dass Robin Alexander akribisch beschreibt, wie Politik funktioniert. Geradezu beiläufig macht er eine Bemerkung, die zu denken gibt: Olaf Scholz sei so ziemlich der erfahrenste Politiker, den man sich denken könne. Er «hatte ein Bundesland und mehrere Bundesministerien geführt. Er hatte als Vizekanzler Angela Merkel und als SPD-Generalsekretär Gerhard Schröder aus der Nähe studieren können. Scholz kannte alle Tricks, genutzt hat es ihm nichts.»
Am Anfang der Ampel gab es zwei Verabredungen, die das Regieren einfacher machen sollten: keine Nachtsitzungen mehr und kleine Beratungsgremien, aus denen nichts nach aussen dringen sollte. Nach kürzester Zeit waren diese Vorgaben Makulatur, und es entstand ein Klima, in dem sich die Partner gegenseitig «nichts gönnen können». Robin Alexander beschreibt eindringlich, wie wichtig das gegenseitige Vertrauen ist, damit Politik funktionieren kann.
Merkwürdige Bildsprache
Man darf ein bisschen spekulieren: Robert Habeck ging in gewisser Weise beschädigt in diese Regierung. Denn als die Grünen im Juni 2019 in den Umfragen bei 26 Prozent weit vor der SPD und nur einen Prozentpunkt hinter der Union lagen, hat ihm Annalena Baerbock die Kandidatur als Kanzler «weggeschnappt». «Habeck ist davon so getroffen, dass er für eine ganze Woche abtaucht und für niemanden zu sprechen ist. Er ist mit Zelt und Campingkocher unterwegs, ganz allein, irgendwo im deutsch-dänischen Grenzgebiet.» – Kurze Zeit später hat man davon nichts gespürt. Er posierte auf den Fotos mit Annalena Baerbock wieder so, als wären sie ein Liebespaar. Leider schreibt Robin Alexander nichts zu dieser merkwürdigen Bildsprache.
Jedenfalls war das Verhältnis zwischen Scholz und Habeck schon dadurch belastet, dass Habeck sich im Grunde für den besseren Kanzler hielt, aber mit den von Baerbock erzielten 14,7 Prozent weit abgeschlagen war. Als Kommunikator befand er sich wiederum auf einer ganz anderen Umlaufbahn, während sich Scholz reihenweise mit seinen ausländischen Kollegen verkrachte. Macron war auf Scholz derartig sauer, dass er ihn nicht einmal mehr zur Wiederöffnung von Notre-Dame einlud.
Landesverrat
Aber Robin Alexander würdigt auch, dass die Ampel im Zeichen des Ukrainekrieges und des Klimawandels vieles richtig gemacht hat, auch wenn ihr aus den Medien der Wind ins Gesicht blies. Eine der schwersten Hypotheken war die Pipeline Nord Stream 2, an der auch Scholz viel zu lange festhielt. Und als der Konflikt mit Russland die Gasversorgung ernsthaft gefährdete, stellte sich heraus, dass Deutschland essentiell wichtige Gasspeicher an Gazprom verkauft hatte. Prompt wurden diese nicht mehr von Gazprom gefüllt. Der Verkauf war nicht nur «aussergewöhnlich naiv». Nach dem Überfall auf die Krim 2014 «grenzt die Dummheit an Landesverrat». So sah das auch Scholz. «Immer wieder zeigt er sich fassungslos darüber, einmal nennt er die Verantwortlichen ‘Arschlöcher’.»
Der Titel dieses spannenden und in jeder Weise lohnenden Buches wirft aber die Frage auf, ob er den Inhalt wirklich trifft. Warum soll die Kanzlerschaft von Friedrich Merz die «letzte Chance» im «Kampf um die Demokratie» sein? Es geht unter anderem um die Selbstbehauptung Deutschlands und Europas gegenüber Russland, und damit sind natürlich demokratische Grundwerte verbunden. Und das Thema Migration wirft dieses Problem noch einmal auf. Der Titel ist ganz sicher verkaufsträchtig, aber nicht ganz präzise. Nur gut, dass er dem Buch nicht schaden wird.
Robin Alexander: Letzte Chance. Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie. München: Siedler Verlag, Juni 2025, 384 Seiten, 25 Euro