Die Schweizer Demokratie ruht auf einem jahrhundertealten Fundament. Sie ist kostbar, doch sie scheint bedroht: weniger von kriegerischen Überfällen als von helvetischer Passivität und Beliebigkeit.
In der Schweiz und in anderen westlichen Demokratien ist eine zunehmende Tendenz festzustellen, das einst mühsam errungene Grundrecht Freiheit im Interesse vermeintlicher Sicherheit von Bürgerinnen und Bürgern zu beschränken. Die Bedrohung von aussen: In Zeiten des erneut aufflammenden Terrorismus islamistischer Wurzeln werden einschränkende Massnahmen gefordert, die gleichzeitig Freiheitsrechte gefährden. Die Bedrohung von innen: Egozentrische Männer, die das politische Parkett benutzen, um ihre persönliche Meinung mit potenzieller Machtbasis zu verwechseln, schaden unserer direkten Demokratie leise, aber kontinuierlich.
Sicherheit in Freiheit
Schweizerinnen und Schweizer interpretieren wohl die Begriffe Freiheit und Sicherheit meist im Sinne von Sicherheit in Freiheit. Es ist nachvollziehbar, dass wir in der ältesten Demokratie der Welt Sicherheit in Freiheit als selbstverständliches Privileg betrachten. Etwas, wofür unsere Vorfahren gekämpft haben, das wir seither moralisch verteidigen, etwas, das wir verdient haben. Täuschen wir uns eventuell?
Eine Schwierigkeit bei der Begriffsdefinition liegt wohl darin, dass wir unter einem Orientierungsbegriff Unterschiedliches verstehen. Unter «affektiv aufgeladen» verstehe ich z. B. nach links (Sozialdemokratie) oder nach rechts (Freisinnige) ausgerichtete politische Parteien. Oder zum Beispiel, weniger erfreulich, den Juso-Rundumschlag mit ihrer Erbschaftsinitiative gegen Reiche (links aussen). Andererseits könnte ich jenen umtriebigen Journalisten nennen, der zu Putin rennt und Donald Trump verehrt (rechts aussen).
Unter mehrdeutigen Orientierungsbegriffen verstehe ich die eigenartige Situation, dass gewisse linke Kreise davon ausgehen, der Staat hätte dafür zu sorgen, dass die «krasse Ungleichheit» in der Gesellschaft auszumerzen sei. Am anderen Pol des politischen Tummelplatzes beobachte ich jene ewig erzkonservativen Männer, die die Zukunft der Schweiz in ihrer Vergangenheit orten.
Soweit mein persönliches Verständnis. Dass ich die extremen Aussenpositionen am politischen Tummelfeld verurteile, da kontraproduktiv, ist wohl sichtbar geworden. Ich betrachte deren Exponenten als eigentliche Feinde der Freiheit.
Der Staat soll …
Bis vor Kurzem tendierte die schweizerische politische Grundeinstellung im Allgemeinen Richtung Freiheit. Man war der Meinung (die Mehrheit bei nationalen Abstimmungen), der persönliche Beitrag zum Gedeihen des Landes sei Voraussetzung und die eigene Leistung eine Selbstverständlichkeit, um auf hohem Niveau seine persönlichen Ziele verfolgen zu können.
Im Prinzip sprach man früher von drei Denkschulen, die das Wahl- und Abstimmungsverhalten beeinflussten: Die Herkunft, dann die Ideologie (siehe oben) und schliesslich der Eigennutz. Wohl am Entscheidensten ist bei allen Varianten, was mich der Urnenentscheid kosten respektive wie viel Geld nachher in mein Portemonnaie fliessen würde.
Ein neues Element scheint mir neuerdings mitentscheidend: politische Massnahmen verknüpft mit konkreten Ereignissen und persönlichen Vorbildern. Drei Beispiele sollen hier genannt werden. Erstens: Seit Jahren steigt der Raumbedarf für Asylsuchende, während die einheimische Bevölkerung verzweifelt zahlbaren Wohnraum sucht. Weitverbreitete Reaktion: «Für die hat man immer Geld, für uns reicht es deshalb nicht mehr!» Zweitens: Gutbezahlte Topmanager, auch Verwaltungsräte mit ihren jährlichen Millionenbezügen, spielten in Firmen wie Novartis oder der untergegangenen Credit Suisse einst eine wichtige Rolle und endeten unrühmlich: «Die Grossen lässt man laufen, die Kleinen werden zur Kasse gebeten!» Drittens: Die Corona-Pandemie hatte zur Folge, dass über Nacht Milliardensummen zur Unterstützung (vermeintlich) betroffener Betriebe gesprochen wurden. «Da ist plötzlich das Geld, von dem uns Bern immer sagt, es fehle.» Das Abstimmungs- und Wahlverhalten wird durch solche Facts vielerorts entscheidend beeinflusst.
Trendwende bei eidgenössischen Abstimmungen
Spätestens seit der Volksabstimmung über die 13. AHV-Rente dieses Jahr wissen wir: Erstmals ist eine «Forderinitiative» der Linken vom Volk angenommen worden. Welches waren die Gründe? Neben den im obigen Abschnitt genannten persönlichen Reaktionen aufs politische und gesellschaftliche Geschehen ist wohl die Abstimmungspropaganda massgeblich. Da sprachen die Initianten davon, die Finanzierung dieser Zusatzrente (Kosten ca. 5 Milliarden Franken) sei geregelt und deshalb kein Problem. Was – wie wir damals und heute wissen – gar nicht zutraf. Diese Botschaft wurde vor allem von einer Person verbreitet, dem Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Sein Erfolgsgeheimnis: Sprich darüber, wovon Abstimmende potenziell profitieren, und verheimliche alles andere, in diesem Fall besonders, was der Preis sein werde für diese 13. Rente.
Die helvetische Wohlstandsinsel
Offensichtlich betrachten viele Menschen im Land «die Wohlstandsinsel Schweiz als Naturgesetz» (NZZ). Hier redet man von Wohlstandsverwöhnung, auch Dekadenz. Dabei war noch vor wenigen Jahren einer Mehrheit des Stimmvolks bekannt, dass der Wohlstand nicht vom Himmel (respektive der AHV-Kasse) fällt.
Ob «Ohne Sicherheit ist keine Freiheit» oder «Ohne Freiheit ist keine Sicherheit» – könnten wir in unserem schweizerischen Sonderfall Letzteres wieder mehr betonen?
Schliesslich erfänden wir damit nichts Neues. Wie Christian Meier (*1929), Althistoriker, einst in «Kultur, um der Freiheit willen» (Griechische Anfänge – Anfang Europas?) schrieb, mussten die Griechen – wenn sie eigenständig sein wollten – «selber für das auf[…]kommen, selbst also zu allem Notwendigen befähigt sein. Zunächst in ihren Häusern, in ihrem privaten Bereich. Zunehmend aber auch in der Öffentlichkeit ihrer Gemeinwesen.» (Meier beschreibt das antike Griechenland im 5. Jahrhundert v. Chr.).