
Gegen Ende ihres Buchs scheint es der Autorin angezeigt, das, was sie bis dahin mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu erläutern versucht hat, nochmals zu verdeutlichen: «Das Ereignis an diesem 25. August 2015 ist nicht: Irgendwo in den Bergen von Kamtschatka greift ein Bär eine französische Anthropologin an. Das Ereignis ist: Ein Bär und eine Frau begegnen sich, und die Grenzen zwischen den Welten implodieren.»
Dieser Verletzung, Überschreitung, Aufhebung der Grenzen gilt der Bericht von Nastassja Martin, der zugleich Tage- und Notizbuch ist, Erinnerung und Traum, Abenteuergeschichte und Nahtoderfahrung, Reflexion und Essay im Versuch, Ethnografie, Animismus und Mythos zusammenzudenken. Ein bemerkenswertes, ungewöhnliches Buch, das nicht zuletzt deshalb interessant ist, weil es die eine und andere Frage offenlässt.
Sie zeigt dem Bären die Zähne
Martin war an diesem Tag von einer Besteigung des Kamen zurückgekommen; diejenige des benachbarten Kljutschewskoi, ebenfalls ein Vulkan und höchster Bergs Kamtschatkas, hatte wegen schlechten Wetters aufgegeben werden müssen.
(Da die Autorin es nicht tut, sich vielmehr über die Landschaftsschwärmereien ihrer beiden russischen Begleiter mokiert, versucht der Leser vielleicht anderweitig, sich ein Bild der Szenerie zu machen, etwa durch die Aufnahmen des Russen Wadim Gippenreiter, der diesen gewaltigen Vulkanlandschaften einen prächtigen Bildband gewidmet hat: «Kamchatka. Land of Fire and Ice», 1992. Den Bären des Landes erwies der französische Tierfotograf Vincent Munier seine Reverenz in «Kamtchatka», 2008 – jener Meisterfotograf, der sich auf seiner Suche nach dem Schneeleoparden im winterlichen Tibet von Sylvain Tesson begleiten liess; dessen «La panthère des neiges», gleichzeitig mit Martins Buch 2019 erschienen, ist mitunter ganz amüsant, allerdings machen die ständigen Bildungshubereien auch die Fallhöhe zu Martins ungleich substanziellerem Bericht deutlich. Kaum erwähnt wird von Tesson die Partnerin Muniers, Marie Amiguet, die die Expedition filmisch dokumentiert hat; ihr «La panthère des neiges», 2021, hat am diesjährigen Zurich Film Festival seine Premiere im deutschsprachigen Raum.)
Die Begegnung verläuft katastrophal
Erschöpft nach einem gefährlichen Abstieg in heiklem Gelände mit alpinistisch weniger versierten Gefährten, hat Martin das Bedürfnis nach Ruhe und geht voraus. Was der Bär hier oben im Geröll der Hochtundra zu schaffen hatte, muss – zumindest aus westlich-rationaler Sicht – Spekulation bleiben. Den Wind im Rücken, die Sicht durch einen Felsblock versperrt, sah er plötzlich zwei Meter vor sich diese Frau, die aber nicht nur nicht den Blick senkte, sondern ihm ebenfalls die Zähne zeigte.
In seiner «Beschreibung von dem Lande Kamtschatka» schreibt Georg Wilhelm Steller: «Wenn ein Itaelmene eines Bären ansichtig wird, spricht er nur si pang und beredet ihn von weitem, Freundschaft zu halten.» Der deutsche Naturforscher, der 1740 nach Kamtschatka gekommen war, der grössten Halbinsel der ostsibirischen Küstrenregion, spricht davon, dass man Bären «auf ganz Kamtschatka in unbeschreiblicher Menge […] herdenweise auf den Feldern umherschweifen» sehe – was die Mädchen und Frauen nicht hindere, mitten unter ihnen Ähren aufzulesen.
Die Begegnung Nastassja Martins mit dem Bären verläuft katastrophal, jedenfalls unter medizinischen Gesichtspunkten. Zwar lässt er blutend von ihr ab, nachdem sie ihm mit dem Eispickel eine Wunde in die Flanke hat schlagen können, aber mit einem Stück ihres Kieferknochens samt zwei Zähnen im Maul; zudem hinterlässt er Frakturen des rechten Unterkiefers und des rechten Jochbeins nebst einem Biss ins rechte Bein. (Dass der Kopf bei derartigen Begegnungen besonders gefährdet ist, hat auch der junge Leo Tolstoi erfahren, als ein Bär, auf den er mutwillig eine Jagd angezettelt hatte, seinen Kopf ins Maul nahm, bevor er von ihm abliess – so dass viele Jahre später aus der Begebenheit eine Erzählung werden konnte …)
Postsowjetische Tristesse
Bruchstückhaft teilt Martin in der Folge die dramatischen Umstände ihrer Rettung und medizinischen Behandlung mit: nach Stunden der Helikopter, die Erste Hilfe in einer Einrichtung in militärischem Sperrgebiet, die Verlegung ins Spital in Petropawlowsk mit seinem goldbehängten Chefarzt, der jeweils die Nachtschwestern zum Sex in einem Nebenraum abkommandiert, die schmerzhafte Heilung, das Verhör durch einen Agenten des FSB, der Flug nach Moskau und weiter nach Frankreich und dort als nächste medizinische Station die Kiefer- und Gesichtschirurgie der Salpêtrière in Paris.
Die Schilderung der Zustände in Fernost, sowohl drinnen, in den Gebäuden und Institutionen, wie draussen in der verkommenen Infrastruktur, hat beim Rezensenten Erinnerungen an winterliche Filmdreharbeiten mit Franz Reichle und Peter Liechti im östlichen Sibirien geweckt: 1990, in einer klinisch längst toten Sowjetunion, die aber in ländlichen Gebieten ganz offensichtlich bis heute weiterlebt. Und was auf dem Land und bei den ewenkischen (nicht ewenischen!) Jägern und Rentierzüchtern in den Bergen allenfalls noch als ärmlich durchgehen mochte, war dann in der Stadt bloss noch erbärmlich.
(Verstörend, nebenbei, wie diese Jäger, als sie vernahmen, dass wir nur den als Gastgeschenk mitgebrachten und sofort konsumierten Wodka besessen hatten, uns Zobelfelle anboten im Tausch gegen Rasierwasser, über das wir aber auch nicht verfügten. Ihre Rentiere hingegen lechzten nach Salz. Wenn jemand im Umfeld des Lagers in den Schnee gepinkelt hatte, war der gelb gesprenkelte Bereich jeweils innert Kürze aufgeleckt. Kein Vergleich freilich mit dem, was Steller 1741 auf der Beringinsel mit den geradezu unvorstellbar gefrässigen Eisfüchsen erlebt hatte: «Einen Matrosen, der in der Nacht auf den Knien sitzend zur Tür der Hütte hinaus harnen wollte, haschte der Fuchs an dem entblössten Teil und wollte seines Schreckens ungeachtet nicht bald loslassen.»)
Am schlimmsten in der UdSSR war jedoch diese völlige Gleichgültigkeit gegenüber allem, das irgendwie dem öffentlichen Bereich zugeordnet werden konnte. Niemand zuständig, niemand für irgend etwas verantwortlich, während die (Provinz-)Nomenklatura sich in Willkür erging. So sassen wir tagelang in unserm Refugium in den Bergen fest, ohne dass der Helikopter oder nur schon eine Information gekommen wäre. Vor diesem Hintergrund muss Nastassja Martins Rettung und Überleben in russischer Obhut als Wunder bezeichnet werden, zu dem ihre körperliche und mentale Zähigkeit und wohl nicht zuletzt ihre sprachliche Versatilität allerdings viel beigetragen haben dürften.
Satire und Thriller
Martins Bericht verschärft sich zur ungemütlichen Satire, wenn ihr Kiefer in Paris zum Schauplatz eines kalten Kriegs wird, indem die Metallplatte aus dem «Osten» durch eine Titanplatte aus dem «Westen» ersetzt werden soll. Dumm nur: «Ein resistenter Streptococcus, Bewohner des Pariser Operationstrakts, hat sich auf der neuen Platte niedergelassen, die mich vor der schlechten Qualität ihrer russischen Konkurrentin retten sollte. Schlimmer noch, er pflanzt sich rasend schnell fort.» Für die Chirurgin in Grenoble, von der sie diese Diagnose erhält, ein weiterer Beweis der Inkompetenz der Pariser Spezialisten.
Am Ende wird, in Paris, eine Knochentransplantation resultieren, nebst Entfernung eines weiteren Zahns sowie eines Lymphknotens. Zum Thriller wird die Geschichte, als Martin im Zug nach Hause, nach Grenoble, den Telefonanruf aus der Salpêtrière erhält, bei der nächsten Haltestelle auszusteigen, mit niemandem zu sprechen und sofort ins Spital zurückzukehren: Der Knoten lege den dringenden Verdacht auf Tuberkulose nahe.
Nastassja Martin wird nichts dergleichen tun. Und da der Anruf am 13. November erfolgte, dem Tag der Terrorattacken in Paris, hat man in der Salpêtrière bald schon ganz andere Sorgen.
Halb Mensch, halb Bär
Sie hat überlebt, aber Heilung, das weiss sie, wird sie erst in Kamtschatka finden, bei ihrer anderen Familie, Ewenen, über deren Welt sie als Ethnologin forscht und schreibt. Und so macht sie sich mitten im Winter auf, zurück ins Land der Bären, mit denen sie, weil sie diese folgenschwere Begegnung überlebt hat, aus ewenischer Sicht neu und ganz anders verbunden ist: als «miedka», halb Mensch zwar, aber eben auch halb Bärin (und was etwas ganz anderes ist, als etwa bloss Mitglied eines Bärenclans zu sein). Was ein Ewene denn auch mit Feindseligkeit quittiert.
Aus westlicher Sicht, etwa derjenigen der Experten von «backcountry bear basics», also dem richtigen Verhalten in Bärengebiet, hat Martin in dieser Extremsituation, die keinerlei Überlegen mehr zuliess (und kein «si pang»), absolut richtig gehandelt, als sie sich «wie eine Furie» gegen das Tier zur Wehr setzte. Für sie allerdings ist dieser «Kuss des Bären», wie sie die beinah tödlich ausgegangene Erfahrung im Rachen der Bestie nennt, die endlich erfolgte Bekräftigung der «liminarité» oder Liminalität, jenes Übergangs während des Rituals von einem früheren in den neuen Zustand, dem ihre Forschungsarbeit gilt und den sie am eigenen Leib erfahren durfte – um so «Das wilde Denken», Claude Lévi-Strauss‘ klassische Theorie der «pensée sauvage», zu «Das Wilde denken» zu erweitern.
Etwas irritierend bei der Lektüre der deutschen Übersetzung von «Croire aux fauves» (2019) ist, dass immer von «Anthropologin» die Rede ist, wo es klar um Ethnologie geht. Um die eingangs angesprochene Erfahrung der Entgrenzung auch sprachlich abzubilden, lässt Martin bei längeren Satzperioden wiederholt die Satzzeichen weg. Die im Ganzen sorgfältige Übersetzung folgt ihr darin einmal und dann wieder nicht. Und dass «étudiants en médecine» in heutigen deutschsprachigen Texten eben nur noch als «Medizinstudierende» auftreten – man hat sich schon fast damit abgefunden.
Die Bärin und der Eispickel
Zwei Punkte bleiben in Nastassja Martins faszinierenden Darlegungen interessanterweise ausgespart. Ohne Evidenz anzuführen, spricht sie nur immer vom «Bären»; die Eventualität einer Bärin bleibt unberücksichtigt. Weil ewenische Mythologie das nicht zuliesse? Und der Eispickel verschwindet kurz nach seinem Auftreten aus der Geschichte. Die ohne ihn mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht hätte erzählt werden können.
Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 139 S., Fr. 28.90
Eine kürzere Fassung dieses Artikels ist in der «Weltwoche» erschienen.