Direkt zum Inhalt

Hauptnavigation

  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
EU-Perspektiven

Georgien ist frustriert

26. Juni 2022
Erich Gysling
Erich Gysling
Tbilissi
«Marsch für Europa»: Zehntausende demonstrieren am Freitag in Tbilissi für eine Aufnahme Georgiens in die EU. (Foto: Keystone/AP/Shakh Aivazov)

Ungerecht, parteiisch, ja unverständlich sei die Entscheidung der EU, der Ukraine und Moldawien den Status von Beitrittskandidaten zu verleihen, Georgien dagegen in die hinterste Reihe zu versetzen, lauteten einige der Slogans der 20’000-Menschen-Demonstration in der Hauptstadt Tbilissi vom Freitag. Aber es gab auch eine Menge Kritik an die Adresse der eigenen Regierung. Premier Irakli Garibaschwili müsse vorwärts machen mit Reformen in der Politik und der Justiz, um EU-kompatibel zu werden, lautete eine Forderung.

Die Menschen des 3,7-Millionen Landes Georgien fühlen sich schon jahrzehntelang «europäisch». Das Land hat, das stellt wohl jeder Besucher fest, einen erstaunlich «europäischen» Touch, Geografie (nordöstlich von der Türkei) hin oder her. Am deutlichsten merkt das, wer auf dem Landweg beispielsweise von Erzurum oder Trabzon einreist – da drängt sich, nach dem Grenzübertritt, blitzschnell der Eindruck auf, man komme aus einem nahöstlichen in ein europäisches Land.

Eine Abart der «europäischen» Option gab es schon in den Jahren, als Georgien noch Teil der Sowjetunion war. Georgische Händler (die konnte man auch in Moskau antreffen) rühmten sich gerne, dass sie der vom Kreml verordneten Planwirtschaft ein Schnippchen schlagen konnten. Sie erzählten, wie billig für sie ein Flug von Tbilissi in die russische Hauptstadt sei, so billig, dass es sich lohne, einen Sack voll Zitrusfrüchte mitzunehmen und unter der Hand in der Hauptstadt zu verkaufen.

Saakaschwili, der «Musterknabe»

In dem nach dem Ende der UdSSR (1991) unabhängig gewordenen Georgien war es Micheil Saakaschwili, der als Präsident in den Jahren zwischen 2004 und 2013 den europäischen Charakter des Landes unermüdlich betonte. Mitgliedschaft in der EU, aber auch in der Nato waren aussenpolitische Leitsterne Saakaschwilis – dabei erhielt er verbalen Sukkurs sowohl aus Brüssel wie auch aus Washington durch US-Präsident George W. Bush, der nicht müde wurde, den Georgier als Musterdemokraten zu preisen.

Saakaschwili revanchierte sich u. a. durch die Entsendung von militärischen Kontingenten für Einsätze im Mittleren Osten – und erntete wortreich Lob, blieb aber erfolglos, wenn es um die von ihm erwarteten Gegenleistungen ging. Am dramatischsten zeigte sich das im Sommer 2008, als Saakaschwili versuchte, die Abtrünnigen der Region Süd-Ossetien durch einen Bombenangriff auf Zchinwali in Schockstarre zu versetzen. US-Unterstützung kam nicht, aber auf der anderen Seite nahmen die Russen mit ihren Panzern die Gelegenheit wahr, den Süd-Osseten zu Hilfe zu eilen und danach gleich noch für einige Wochen nach Georgien hineinzudonnern.

80 Prozent für einen EU-Beitritt

Das Ende der Ära Saakaschwili bedeutete keineswegs das Ende des europäischen «Traums» der Menschen in Georgien. Maja Pandschakidse, Aussenministerin von 2012 bis 2014, beschrieb mir die EU-Mitgliedschaft als Priorität. Sie erklärte diese Linie auch in den Jahren danach als oberstes Ziel für Georgien – und glaubt man aktuellen Meinungsumfragen, so sprechen sich jetzt, im Jahr 2022, nicht weniger als 80 Prozent der Georgierinnen und Georgier für den Beitritt zur EU aus.

Die Gründe für die Rückstufung Georgiens gegenüber der Ukraine und Moldawiens beim Kandidaten-Status liegen allerdings auf der Hand: die Regierung in Tbilissi hat bei der versprochenen Justiz-Reform nicht nur keine Fortschritte, sondern Rückschritte gemacht (eine von der regierenden Partei angestrebte Vorlage für mehr Überrwachungsstaat  blockierte die Staatspräsidentin in letzter Minute). Und im Bereich des Politischen nimmt die Polarisierung zu.

Wankel-Haltung gegenüber Russland

Für die Aussenwelt am deutlichsten wird das durch das Verfahren gegen den früheren Präsidenten, Micheil Saakaschwili, dem u. a. illegale Einreise in sein früheres Heimatland vorgeworfen wird. Und der in der Person von Bidsina Iwanischwili, Ex-Premierminister und Milliardär, einen mächtigen Gegenspieler hat. Iwanischwili soll es auch sein, der Georgiens derzeitige Wankel-Haltung gegenüber Russland und dessen Krieg gegen die Ukraine (keine Sanktionen, keine Provokationen) zu verantworten habe, wird vermutet. Mit Rückverweisen auf die Art und Weise, wie Iwanischwili zu seinem Reichtum gekommen ist, als Computer- und IT-Geschäftsmann in Moskau.

Gesetzt den Fall, dass die EU sich in absehbarer Zeit doch noch dazu durchringt, Georgien den Status als Beitrittskandidat zu verleihen, wird sich «Brüssel» wohl auch Gedanken dazu machen, was die entsprechende Erweiterung kosten könnte. Jedes Land, das pro Einwohner weniger als 90 Prozent des EU-Durchschnitts erwirtschaftet, hat Anrecht auf Zuschüsse für die Kohäsion (Infrastruktur) und die Landwirtschaft. Polen erhält pro Jahr immer noch rund 15 Milliarden, die Ukraine wird (oder würde, wenn sie wirklich beitreten könnte) wohl für viele Jahre mindestens diese Summe erhalten, Moldawien aufgrund seiner geringen Bevölkerung entsprechend weniger, aber es wird/würde den EU-Haushalt immer noch um Milliarden belasten. Georgien in ähnlicher Grössen-Ordnung.

Man kann davon ausgehen, dass auch solche Rechnerei (sie mag angesichts der jetzigen Krisen-Weltlage als kleinlich erscheinen) von den Fachleuten in Brüssel getätigt wurden. Und dass auch eine solche «Buchhalter»-Sicht dazu geführt hat, Georgien für unabsehbare Zeit zurückzusetzen. 

Letzte Artikel

«Dramatische Eskalation»?

Heiner Hug
10. August 2022

Auf den Wegen der Bilder

Stephan Wehowsky
9. August 2022

Tatsachen und Meinungen – ein Faktencheck

Erich Gysling
8. August 2022

Ein Gedankenexperiment

Urs Meier
8. August 2022

Als auf dem Po noch Vergnügungsschiffe fuhren

Heiner Hug
8. August 2022

Fehlendes Fingerspitzengefühl von Amnesty gegenüber der Ukraine

Reinhard Meier
7. August 2022
Zurück zur Startseite
Leserbrief schreiben
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

Fußzeile

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.