Bern stellt Zürich in den langen Schatten. Jedenfalls wenn es um die Auseinandersetzung mit NS-Raubkunst geht.
Das Kunsthaus Zürich verhielt sich im Zusammenhang mit der Sammlung Bührle hochmütig, bockbeinig und formaljuristisch. Das Kunstmuseum Bern entschied sich bei der nicht weniger dornigen Sammlung Gurlitt für die friedfertigen Waffen der offensiven Transparenz, der kunsthistorischen Ehrlichkeit und der kunstwissenschaftlichen Redlichkeit. Ethik ohne jede Rücksichtnahme auf alles, was besitzergreifenden Museen heilig sein mag.
Perfekte Bilanz
Die Früchte des Bemühens zeigt das Kunstmuseum Bern mit berechtigtem Stolz in der Ausstellung «Gurlitt. Eine Bilanz». Sie ist der Wahrheit und Klarheit verpflichtet, spannend lesbar und erhellend erlebbar. Die Rechenschaftsablage überzeugt mit einer Präsentation, die dem Publikum die Augen schärft für Hintergründe und Zusammenhänge und die für die Offenlegung notwendigen Bärenkräfte.
Ein Testament macht sprachlos
Blenden wir knapp zusammenfassend zurück: Ab September 2010 ermittelte die bayerische Staatsanwaltschaft gegen Cornelius Gurlitt, Sohn des 1956 verstorbenen Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, wegen mutmasslicher Steuerhinterziehung und entdeckte in der Münchner und Salzburger Wohnung des Verdächtigen rund 1’600 Kunstobjekte.
Keine Meisterwerke, die Aufsehen erregten, aber spektakulär, weil es sich in ungeahnter Dimension um nationalsozialistische Raubkunst hätte handeln können. Das sollte sich später bestätigen.
Cornelius Gurlitt, der einer Provenienzforschung zustimmte und einverstanden war, erwiesene Raubkunst an die rechtmässigen Eigentümer oder Erben zurückzugeben, starb mit 81 Jahren am 6. Mai 2014.
Er hinterliess ein Testament, in dem er zur allgemeinen Verwunderung bis zur Sprachlosigkeit das Kunstmuseum Bern als Alleinerbin seiner Sammlung bestimmte. Die Motive werden rätselhaft bleiben.
Vom Rätsel zum Glück
Doch die letztwillige Verfügung erwies sich, allen Skeptikern und warnenden Neidern zum Trotz, als Glücksfall. Er begann mit der Sorgfalt und den umsichtigen Konsultationen, mit der in Bern Annahme oder Ablehnung der Erbschaft erwogen wurden. Nach sechs Monaten Bedenkzeit kam es am 24. November 2014 zum bejahenden Entschluss.
Er setzte, teils auf Neuland, zupackende Energien frei. Das Berner Kunstmuseum baute als schweizerisches Novum eine Abteilung für Provenienzforschung auf, zeigte Teile des Gurlitt-Bestandes in Ausstellungen, erfasste das vollständige Legat auf einer öffentlich zugänglichen Datenbank und restituierte neun Kunstobjekte.
Die Werke wurden umfassend dokumentiert und erforscht, die Entscheidungen und Bewertungen detailliert begründet. Sodann entwickelte das Museum für Werke mit lückenhafter Provenienz eine für die NS-Opfer fairere Lösung, die fürs Erste zur Übergabe von zwei Werken führte. Freiwillig – eine in Bern vorbildlich und souverän geübte Tugend.
Spiegelsaal der Erkenntnisse
Die von Nikola Doll kuratierte und von einem breit aufgestellten Team konzipierte und realisierte «Bilanz» ist ein Spiegelsaal der Erkenntnisse. Die Sammlung, die Sammler, Händler und Opfer, die unter schlammbraunen Bedingungen geschaffenen Probleme und die nun getroffenen Lösungen werden zueinander in einen Bezug gesetzt.
Die Informationen spiegeln sich wechselseitig und verleihen der Ausstellung eine sinnliche Dreidimensionalität. Eine wahrhaft gekonnte Dramaturgie und Szenografie.
Leuchtendes Beispiel
Das Kunstmuseum Bern bietet dem Publikum eine so bestürzende wie erleichternde Zeitreise vom Dunkel der antisemitischen Raubzüge ins Helle der Wiedergutmachung und liefert anderen Museen das leuchtende Beispiel für den Umgang mit kontaminierter Kunst. Bern tat – mit Beherztheit sehr einfach – das übergeordnet Richtige.
Kunstmuseum Bern, «Gurlitt. Eine Bilanz», bis 15. Januar 2023, www.kunstmuseumbern.ch