Die Zeit erscheint reif für einen neuen ökologischen Untergrund, gerade im Zeichen des Klimawandels. 2017 warnte die Zeitschrift „Foreign Affairs“ im Titel eines Artikels: „Die nächste Welle des Extremismus wird grün sein“. Und auf einmal gewinnt auch wieder ein Mann an nicht geheurer Aktualität, der seit 20 Jahren in einem Hochsicherheitstrakt im US-Bundesstaat Colorado sitzt und eine bessere, von Technologie befreite Welt ausbrütet: Theodore Kaczynski, der „Unabomber“, der zwischen 1978 und 1995 mit selbstgebastelten Briefbomben vor allem Universitätsangehörige und IT-Spezialisten nach dem Zufallsprinzip tötete oder schwer verwundete – dies von der „Zelle“ einer kleinen Waldhütte in der Wildnis von Montana aus. Der hochintelligente Mathematiker kommuniziert heute von seiner Zelle im Hochsicherheitstrakt aus mit Tausenden von Briefpartnern, zumal Philosophieprofessoren, schreibt Bücher („Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“, ursprünglich „Unabomber Manifest“, 1995; „Technological Slavery“, 2010) und erfreut sich einer wachsenden Aufmerksamkeit in der Pop-Kultur (Netflix-Serie „Manhunt: Unabomber“, 2017).
Kaczynskis Erbe
Kaczynskis Ideensaat geht heute auf. Zwei Jahrzehnte nach seinem letzten tödlichen Anschlag hat er sich zum heimlichen Guru eines neuen Ökoextremismus gemausert. Bücher und Webzines mit Titeln wie „Gegen die Zivilisation“, „Wilde Kultur“, Blogs wie „The Wild Will Project“ sympathisieren mit Kaczynskis Botschaft. Das Motto der ökoanarchistischen Zeitschrift „Atassa“ lautet: „Heute gibt es Menschen, die im Namen der Wildnis ohne Entschuldigung Gewalt an andern Menschen verüben. Diese Zeitschrift sammelt Texte von Autoren, die damit einverstanden sind. Poesie und Essays, welche die antihumanistische Aktion für die Wildnis zelebrieren.“
Und immer noch detonieren Bomben. Zwar sind militante Aktionen in den USA im letzten Jahrzehnt ausgeblieben, aber Nachahmer findet der Unabomber etwa in Griechenland, wo eine Gruppe mit dem poetischen Namen „Verschwörung der Feuerzellen“ Brief- und Paketbomben an Politiker verschickt; auch Wolfgang Schäuble war ein Adressat, blieb aber verschont. In Mexiko sorgt ein loser Gruppenverband für Bombenstimmung, die ITS („Individualidades Tentiendo a la Salvaje“: „dem Wilden zugeneigte Individuen“). Ein chilenischer Ableger der „dem Wilden Zugeneigten“ schickte im Januar 2017 ein „Geschenk“ an Oscar Landerretche, den Präsidenten der grössten Kupfergesellschaft (er erlitt kleine Verletzungen). Das Kommuniqué lautet in üblicher Verbrämung der Selbstgerechtigkeit: „Der überhebliche Landerretche verdient es, für seine Attacken auf die Erde zu sterben.“ Kaczynski findet auch Aufnahme in literarischen Kreisen. Der Schriftsteller Ricardo Piglia übernahm in seinem Roman „Munk“ das Täterprofil Kaczynskis und sogar Ausschnitte aus seinem „Manifest“. Der Psychiater und Krimiautor Keith Ablow hob in den Fox News den Unabomber in die Liga von Orwells „1984“ und Huxleys „Brave New World“.
Das Manifest
Kaczynski handelte 1995 einen Deal aus, nämlich mit seinen Attentaten aufzuhören, wenn er in der Washington Post ein Manifest veröffentlichen durfte. Schon der erste Satz dieses Manifests hat das Zeug zum Fanal: „Die Folgen der industriellen Revolution haben sich für die Menschheit als eine Katastrophe erwiesen.“ Paragraph 4 zieht daraus die Konsequenzen: „Deshalb treten wir für eine Revolution gegen das industrielle System ein (...) Das Ziel wird nicht darin bestehen, Regierungen zu stürzen, sondern die wirtschaftliche und technologische Basis der gegenwärtigen Gesellschaft zu zerstören.“ Und Paragraph 96 rechtfertigt die Anschläge: „Wenn wir (...) die vorliegende Schrift einem Verleger vorgelegt hätten, wäre sie nicht angenommen worden. (...) Aber selbst wenn diese Schrift viele Leser gefunden hätte, würden die meisten das Gelesene bald vergessen haben, weil ihr Gedächtnis durch die Informationsflut der Massenmedien überladen ist. Damit wir überhaupt eine Chance hatten, unsere Botschaft mit nachhaltigem Eindruck zu veröffentlichen, mussten wir Menschen töten ...“ Das „wir“ bezieht sich auf eine fiktive Verschwörergruppe – den „Freedom Club“ –, mit deren Namen Kaczynski seine solitäre Infamie tarnte.
Gegen „das“ System
Am Manifest wurde der traktathafte, nüchterne bis langweilige Stil kritisiert. Das mag zutreffen, aber die argumentative Kraft lebt nicht davon. Tatsächlich schreibt Kaczynski einfach, eingängig, im Stil quasi-mathematischer Endgültigkeit. Er ist ein Revolutionär „more geometrico“. Viele Leser des „Manifests“ bekunden, so etwas wie eine „Erweckungserfahrung“ gemacht zu haben. Auch der Profiler Jim Fitzgerald im Netflix-Film „Manhunt“ erlebt das geradezu infektiöse Ideengut im „Manifest“. Kaczynski nistet sich buchstäblich in ihm ein, transformiert ihn.
Die Lektüre Kaczynkis fordert den Leser heraus, weil er zwischen den Taten und den Gründen für die Taten unterscheiden muss. Leicht unterläuft uns der Fehlschluss: Er ist ein Mörder, und Gedanken von Mördern sind nicht rational. Man muss mit andern Worten den rationalen Kern aus dem angeblich irrationalen biographisch-psychischen Motivgestrüpp herauslösen.
Das Gerüst von Kaczynskis Revolutionsargument gegen „das“ System ruht auf vier Grundannahmen:
Primitive Gesellschaften entwickelten sich unter Low-Tech-Bedingungen, die so etwas wie den „Naturzustand“ definieren.
Moderne Gesellschaften mit ihrem High-Tech-Standard unterscheiden sich davon radikal. Und es ist gerade dieser Standard, der einen nie dagewesenen Stress auf das Individuum ausübt.
Die Situation ist schlecht, und sie wird sich verschlechtern. Wir werden zu technik-konformen Wesen mutieren, zu entmenschlichten Menschen.
Es gibt keinen Weg, das System zu reformieren, um die negativen Folgen dieser Entmenschlichung zu vermeiden.
Deshalb muss das System abgeschafft werden.
Das neue Unbehagen in der Kultur
Natürlich ist die Logik nicht zwingend. Die Prämissen lassen sich anzweifeln. Vielleicht ist die moderne technisierte Lebensform keine „Abweichung“ von einem wie auch immer gearteten Naturzustand. Vielleicht finden wir Mittel gegen den „Stress“ modernen Lebens. Vielleicht sind Reformen angemessener als eine Revolution. Wahrscheinlich liegt die Kampffront nicht simpel zwischen Natur und Technik. Und sicher „erlöst“ man den Menschen nicht von der entmenschlichenden Technik mit unmenschlichen Taten.
Aber es geht hier auch nicht um die zwingende Beweisführung für die Notwendigkeit einer Revolution. Das Faszinosum an Kaczynski ist, dass er quasi das neue Unbehagen in der Kultur personifiziert. Er spricht den heimlichen Unabomber in uns allen an. Genau betrachtet, ist also nicht Kaczynski gefährlich, sondern sein Ideenfundus, der auch bei uns im Keller der Psyche lagert. Angst vor den Ideen – das dürfte mit ein Grund dafür sein, dass man ständig die Person Kaczynski diskutiert – den Mörder und angeblichen Soziopathen –, statt die Ideen. Was ironischerweise eine seiner Thesen bestätigt, nämlich dass die mediale Fokussierung auf „Leute“ die beste Ablenkung vom Denken dieser Leute sei. Umso wichtiger ist es, die Ideen auf ein kritisch-bewusstes Niveau zu heben.
Der „Kaczynski-Impuls“
Kaczynski sieht das Problem in aller Schärfe: Wir sind von Natur aus zu „klein“ für die Probleme, die wir uns mit der modernen Technologie eingebrockt haben. Viele, wenn nicht die meisten Menschen in der technischen Zivilisation spüren diese „Kleinheit“, diese Ohnmacht gegenüber den nicht-menschlichen technischen Mächten (selbst wenn sich diese schliesslich immer als menschliche entlarven). Das Gefühl der Überforderung wächst paradoxerweise in proportionalem Mass zur exzessiven Nutzung der neuen Technologien. Eine Umfrage unter 69’000 Amerikanerinnen und Amerikanern im Jahr 2005 hat gezeigt, dass über die Hälfte der Befragten sich als „technologische Pessimisten“ bezeichnen würden; will sagen: sie bekunden eine indifferente bis feindselige Haltung gegenüber den neuen Technologien. Und es ist anzunehmen, dass nicht wenige in den medialisierten Lebenswelten von heute den „Kaczynski-Impuls“ verspüren, diese leise diffuse Verzweiflung, den Point of no Return bereits passiert zu haben und auf eine schöne neue Zukunft technologischer Alternativlosigkeit zuzuhalten. Gut denkbar auch, dass aus einigen Köpfen von anarchischen Jungspunden eine Frustration hochsteigt, die sich leicht als Lunte für einen Kaczynski-Funken eignet. Es gibt zum Beispiel einen Jünger, John Jacobi, der sich als „Lenin“ Kaczynskis sieht.
„Schlagt zu, wo es schmerzt“
Man kann das „Verdienst“ Kaczynskis darin sehen, dass seine verrenkte Logik uns einen Irrweg zeigt. Aber falsche Schlüsse aus Prämissen bedeuten nicht die Falschheit der Prämissen. Wenn Technik „disruptiv“ ist, unsere Lebensformen tief umwälzt, dann zeigen sich die Symptome drastisch genug in der „Disruption“, der Zerstörung des planetarischen ökologischen Gleichgewichts; aber auch individuell daran, dass wir uns immer mehr zu Techno-Mutanten entwickeln. Wir sind noch kaum in der Lage, uns einen Begriff von der Skala dieser Mutation – sprich Technikabhängigkeit – zu machen. Der Mensch hat die fatale Fähigkeit, Technologien zu schaffen, deren Konsequenzen und Risiken er nicht kennt. Je totaler die Technologien, desto totaler die Konsequenzen und Riskien.
Kaczynski schrieb übrigens sein Manifest zu einer Zeit vor der Allgegenwart des Internets. Und im Gefängnis verfasste er einen taktischen Artikel mit dem Titel „Schlagt zu, wo es schmerzt“. Nun freilich im übertragenen Sinn: Der „Schmerz“ wird den sensiblen Punkten in der Infrastruktur heutigen Lebens zugefügt, in der Elektrizitätsversorgung, in den Kommunikationsnetzen, in den algorithmisch kontrollierten Schaltstellen. Bringe einige vitale Zentren der technisierten Gesellschaft zum Erliegen und diese Kollapse werden wie Epizentren wirken, die ihre Wellen überallhin schicken. Kaczynski, der hochintelligente Mathematiker, hätte das nötige intellektuelle Rüstzeug zu einem brandgefährlichen Software-Saboteur mit sich gebracht, statt „nur“ Paketbomben zu basteln. Aus einem gottverlassenen Waldwinkel heraus lässt sich heute das Netz, also weitgehend unser Leben, lahmlegen. Kaczynski, der Endkämpfer der technischen Zivilisation, sitzt in der Zelle und ist trotzdem mitten unter uns.