Was ist das eigentlich, Musik? Das ist keine musikwissenschaftliche, keine kulturgeschichtliche Frage, sondern eine philosophische. Christoph Türcke stellt sich der Thematik als Philosoph und Musikliebhaber. Sein neues Buch ist eine Ode ans Thema.
Der 1948 geborene Philosoph Christoph Türcke hat die längste Periode seines Berufslebens als Professor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig gewirkt. Er hat also in einem Kontext des Gestaltens Philosophie getrieben und diese als Dimension des Kreativen gelehrt. Mir dieser für einen akademischen Philosophen eher untypischen Karriere war er gut vorbereitet für sein jüngstes Buch, das ein für sein Fach zwar nicht fremdes, aber jedenfalls nicht zentrales Thema aufgreift: die Musik.
Allerdings gibt es durchaus Philosophen, die in ihren Lehren auf die Musik eingegangen sind – Hegel etwa, der sie im Rahmen seiner Ästhetik behandelt. Zahlreicher als die Erbauer konsistenter philosophischer Musiktheorien sind Philosophen, die sich als Musikliebhaber geäussert haben – vielleicht allen voran Nietzsche. Bei ihnen ist Türcke in guter Gesellschaft. Ihm blieb als Siebzehnjähriger eine Musikerlaufbahn versagt wegen Überdehnung der linken Hand beim Üben des Violinkonzerts von Max Bruch. Wie eng er mit Musikgeschichte, Musikwissenschaft und musikalischer Praxis vertraut ist, spürt man auf fast jeder Seite seines neuen Buches.
Im Gestrüpp der kulturellen Differenzen
Anders als bei den «klassischen» akademischen Disziplinen, die sich mit Historie, sozialen Funktionen und Formen von Musik befassen, ist es der Anspruch einer Philosophie der Musik, zu deren eigentlichem Wesen etwas sagen zu können. Dieser Versuch jedoch muss unvermeidlich ins Gestrüpp der kulturellen Differenzen führen, da unterschiedliche Ethnien und Kulturen, aber auch nur schon die diversen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb eines Kulturraums sehr verschiedene Auffassungen von Musik und je eigene Arten des Umgangs mit ihr haben. Allein schon der Kollektivsingular «die Musik» dürfte bei Fachleuten der Musikgeschichte, Musikethnologie und Musiksoziologie die Haare zu Berge stehen lassen.
Damit ist ein versierter Theoretiker wie Türcke selbstverständlich vertraut und er ist nicht so naiv, den zu erwartenden Einwänden gegen sein, wie es dann heisst, «eurozentrisches» Vorgehen ins Messer zu laufen. Doch Türcke argumentiert gar nicht gegen den zur Routine verflachten Pauschalangriff. Vielmehr versucht er diesen mit einem Theoriedesign auszuhebeln, wie sein Kollege Volker Gerhardt es ähnlich in seiner 2019 erschienenen philosophischen Anthropologie vorgemacht hat. Im Rückgriff auf paläontologische Tiefenschichten umgeht er die Sphäre der Kulturdifferenzen und verankert die primären Festlegungen seines musikphilosophischen Versuchs dort, von man noch ungestraft den Kollektivsingular «der Mensch» benutzen kann: in der prähistorischen Herausbildung dessen, was als das unterscheidend Humane hervortritt.
Vom kollektiven Schrei zum Choral
Irgendwann in der Altsteinzeit meint Türcke die Genese des Phänomens Musik dingfest machen zu können: Als die Ur-Horde, um ihre Angst vor Geistern oder Göttern zu bannen, einen der Ihren rituell opfert als besänftigende Gabe an das Numinose, da löst sich aus den Kehlen der Beteiligten ein kollektiver Schrei, ein zunächst unartikulierter Laut, der in einem das Entsetzen über den gemeinschaftlichen Ritualmord und die Erleichterung über die darin vollzogene Versöhnung mit dem undurchschaubaren Schicksal ausdrückt.
Historisch belegen lässt sich diese Theorie selbstverständlich nicht. Doch es gibt Indizien, die für sie sprechen. Eine Reihe von Mythen und religiösen Überlieferungen lassen die Annahme zu, dass Menschenopfer weit verbreitet waren, und Türckes Spekulationen zu den kulturell tief verankerten Narrativen und Psychodynamiken solcher Ereignisse sind zumindest nicht abwegig. Gemeinsames Schreien ist ein Ursprung des bewältigenden Sprechens, es verdichtet sich zu Formeln, die das Kollektiv einen und dessen gemeinsame Erfahrungen festhalten. Und solche Formeln haben in allen bekannten Kulten stets mit Melodie und Rhythmus eine musikalische Gestalt angenommen.
Von der Ur-Szene kollektiver Emotion des Schreckens und der Erlösung springt Türcke irgendwann zu Johann Sebastian Bachs Johannespassion, in deren Schlusschor «Ruht wohl, ruht wohl, ihr heiligen Gebeine» er das korrespondierende Gegenstück zum urzeitlichen Opferschrei ausmacht. In diesem vielleicht ergreifendsten aller Bach’schen Choräle antwortet die Musik auf das Opferthema der Passion, das nicht die Versöhnung der Menschen mit Gott, sondern umgekehrt: Gottes mit den Menschen bedeutet. Doch auch in dieser Umkehr bleibt der tröstend-besänftigende Choral mit dem prähistorischen Schrei verbunden.
Türcke bindet mit diesem kühnen Gedanken Bachs grosse Musik zurück an eine Ur-Situation, in der «die» Menschen ihre elementare Vergesellschaftung erfahren und ihre existenzielle Angst bewältigen – als Griff zurück hinter die historisch ausgeprägten Kulturdifferenzen. Trotzdem bewegt sich seine Erörterung des riesigen Themas mit wenigen Abschweifungen weitgehend in der europäisch-westlichen Musiktradition. Manche Kritiken haken hier ein und kreiden dem Verfasser kulturelle Voreingenommenheit und unzulässige Engführung an.
Vorgehen in Sprüngen
Doch statt dem Autor vorzuwerfen, dass er manches nicht bietet, geniesst man besser, was sein Buch leistet. Türcke entwirft von seinem paläontologischen Ausgangspunkt her ein existenzielles Verständnis, das Musik als Ausdruck der Condition humaine betrachtet. Seine elaborierte Sprache stellt immer wieder Zusammenhänge zur Basis dieses Diskurses her. Und wenn auch der Gang der Abhandlung nicht wenige kühne Sprünge tut, so spielt Türcke doch stets mit offenen Karten. Man liest das mit gespanntem Interesse und intellektuellem Vergnügen.
Auch der Gang durch die Musikgeschichte vollzieht sich in Sprüngen; sie entsprechen Türckes philosophischer Methode, die oft das scheinbar Entfernteste zusammendenkt und so Funken schlägt. Obwohl der Autor von sich selber sagt, er sei primär im klassisch-romantischen Musikkosmos zuhause, interessiert er sich für dessen Grenzen – Schönberg, Strawinsky, Stockhausen – und gewinnt aus der eindringlichen Beschäftigung mit der Neuen Musik einen zusätzlichen Bezug zu seinem Denkansatz, der das Phänomen Musik in der Genese des Humanen verortet.
Türckes Gedankensprünge und Diskursfährten lassen sich kaum zusammenfassen und referieren. Ihre Form ist nicht nur im Grossen von der Ouvertüre bis zur Coda des Buches musikalisch strukturiert, sie spielt auch rhetorisch mit dem Repertoire der Musiksprache, wie es von Renaissance bis Spätromantik entwickelt wurde. Und dies ist denn auch das eigentlich Philosophische an dieser grossen Abhandlung: Sie ist reflexiv in dem Sinn, dass sie nicht nur argumentativ, sondern auch sprachlich-formal einen schlüssigen Diskurs ergibt, in dem es immer um die eine Frage geht, was denn das sei, «die Musik».
Vernachlässigte Reviere
Vielleicht ist es Türckes leises Unbehagen an seinem eigenen Insistieren auf dem Kollektivsingular «die Musik», das ihn veranlasst hat, nicht nur die Grenzen, sondern auch die von Theoretikern oft vernachlässigten Reviere der Musik zu beackern: Jazz, Pop, Rap. Im Fall des Jazz folgt der Verfasser zwar der ziemlich vernichtenden Kritik Adornos, der diesem den Werkcharakter abgesprochen hatte, versucht dann aber eine Rehabilitation: «… im Vergleich zu Debussy, Strawinsky und Schönberg ist der Jazz ähnlich dilettantisch wie die Dreigroschenoper im Vergleich zur Zauberflöte. Nur hat dieser Dilettantismus sein eigenes Recht, so bald ihm gelingt, (…) auf spontane, befreiende Art ein Glücksversprechen mit enormer Echowirkung zu artikulieren.»
Das ist ein bisschen gönnerhaft. Jazz ist keineswegs, wie Adorno meinte, im Dilemma zwischen Komposition und Improvisation gefangen, sondern erzeugt aus beidem einen originalen Sound der Grossstädte, der Intellekt und Emotion genauso vereint wie Bachs Fugenwerke. Stimmiger erscheint Türckes Kritik des Rap: «Der Witz des Rap war die Zurückübersetzung von Musikkonserven in Livemusik gewesen. Nun wurde diese Livemusik ihrerseits in Konserven überführt. Was die Kulturindustrie gegen den Strich gebürstet hatte, wurde ihr einverleibt. Was Notwehr gegen sie gewesen war, wurde neuer Lifestyle.»
Höhepunkt Zauberflöte
Glanzvoll sind die musikhistorischen Veduten, die Türckes Erörterung begleiten. Grossartig etwa die Darstellung der Auseinandersetzung des Musikwissenschaftlers Eduard Hanslick mit Wagners Musik, die in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Eindrücklich die Entstehungsgeschichte von Mahlers Sinfonien, die tief in der von Türcke als Musik-Ursprung georteten Vorzeit wurzelt. Und weiter: Nietzsche, der in seiner Feier des Dionysischen die Befreiung aus der Vorherrschaft des Apollinischen erstrebt und dabei von Wagner beflügelt wird – aber eben nur halb.
Die schönsten dieser musikphilosophischen Werkbetrachtungen sind Mozarts Opern gewidmet, mit der Zauberflöte als wundersamem Höhepunkt, von dem Adorno sagte: «Nach der ‘Zauberflöte’ haben ernste und leichte Musik sich nicht mehr zusammenzwingen lassen.» Auf sechs Buchseiten legt Türcke eine Deutung dieser letzten Mozart-Oper vor, die selber wie von Amadeus komponiert dasteht (S. 432–437). Jeder Satz fliesst aus den vorangegangenen, jeder Gedanke fügt dem Glück, das dieses Werk in sich birgt, ein neues Glanzlicht bei.
Christoph Türcke hat ein Buch vorgelegt, das Musikliebhaber mit philosophischen Neigungen begeistern wird. Der breit belesene Verfasser verwöhnt sein Publikum mit einem Wissensschatz über Musik und das Nachdenken über sie. Vor allem aber schüttet er einen Fundus von überraschenden Ideen zum Thema aus, die sich aus seinem Versuch ergeben, den Ursprung des Phänomens Musik als einen Aspekt der Genese des Humanen in der Prähistorie zu verorten. Und das ganze Paket profitiert entscheidend von Türckes souveräner Gedankenführung in stilistisch brillanter Sprache. Ein intellektuelles Vergnügen!
Christoph Türcke: Philosophie der Musik, C. H. Beck 2025, 510 S.