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Nachruf auf Papst Franziskus

Ein Seelsorger auf dem Papstthron

21. April 2025
Erwin Koller
Papst Franziskus
Franziskus im Dezember 2013 (Keystone/EPA/Ettore Ferrari)

Obwohl er italienische Wurzeln hatte, kam der Argentinier Jorge Mario Bergoglio aus der Fremde und blieb im Vatikan ein Fremder. Er trat ein schweres Erbe an, seine Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI. verfolgten während 35 Jahren (1978–2013) einen betont konservativen Kurs in der katholischen Kirche, ganz gegen den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965), das einen epochalen Aufbruch in die Moderne gewagt hatte. Benedikt XVI. musste gar demissionieren, weil er mit Missständen in der Kurie nicht mehr zurechtkam.

Ein Jesuit aus Buenos Aires wird Bischof von Rom

Ihr neues Oberhaupt hatten die Kardinäle der grössten religiösen Institution der Welt am 13. März 2013 gekürt. Wie der gewählte Franziskus auf die Loggia des Petersdoms trat, erlebten die Römer auf dem Petersplatz und die Fernsehzuschauerin aller Welt eine Sternstunde. Er begrüsste sie nicht mit frommen Worten, vielmehr mit einem «Buona sera!» Er nannte sich nicht Papa, sondern bescheiden «Bischof von Rom». Er bat um ihren Segen und um ihr Gebet für ihn. Zum Abschluss wünschte er ihnen ein gutes Abendessen – «un buon pranzo». Ein Seelsorger an der Spitze der Kirche, das war nach dem Showman Wojtyła und dem Professor Ratzinger neu und verheissungsvoll.

Vor dem Konklave hatte Bergoglio am 9. März in einer kurzen Rede den Kardinalskollegen zu bedenken gegeben, dass sie zwischen zwei Kirchenbildern wählen müssten: einer «verkündenden Kirche, die aus sich selbst hinausgeht, das Wort Gottes ehrfürchtig vernimmt und getreu verkündet» und einer «mondänen Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt» (Franziskus: Leben. Meine Geschichte in der Geschichte. 2024, S. 215). Dafür bekam er sehr viel Beifall, die Intervention war wohl wahlentscheidend. Denn die Mehrheit des Wahlgremiums forderte eine reformfähige Kirche.

Franziskus wurde für viele Gläubige bald zu einem Hoffnungsträger und gewann mit seinen im Alltag der Menschen verwurzelten Worten der Verkündigung viel Sympathie. Er weigerte sich, im Papstpalast zu residieren («Da hätte ich über kurz oder lang einen Psychiater gebraucht.») und verstand die Kirche nicht als heilige Institution, die ihre Wahrheit nur noch wie ein Schwemmgut aus einer anderen Zeit museal zu verwalten hat. Er verglich die Kirche vielmehr mit einem «Feldlazarett nach der Schlacht», wo getreu dem Vorbild des barmherzigen Samariters den Menschen die Wunden verbunden werden. «Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgeht, lieber als eine Kirche, die krank ist, weil sie sich bequem an ihre eigene Sicherheit klammert.» Die Flüchtlinge auf Lampedusa zu besuchen hatte für ihn darum oberste Priorität – es war im Juli 2013 seine erste Reise als Papst.

Die verbeulte Kirche und der spirituelle Alzheimer seiner Spitzenkräfte

Das seelsorgerliche Konzept hatte bald unliebsame Folgen. Seine Weihnachtsansprache 2014 vor den Kardinälen, Bischöfen und Priestern der Kurie war ein Donnerschlag. Er prangerte fünfzehn Krankheiten seiner Spitzenkräfte an: spiritueller Alzheimer, Schizophrenie, Grössenwahn, Geschwätzigkeit, exhibitionistisches Verhalten, Rivalität und Eitelkeit, krankhafter Karrierismus. Einige in der Kurie würden sich in ihrem Erwähltheitskomplex für unsterblich, immun und unentbehrlich halten und hätten ein «Herz aus Stein und einen steifen Hals … Verhaltet euch nicht wie eine geschlossene Gesellschaft. Besucht einen Friedhof und lernt, dass ihr keine unsterblichen Chefs seid!»

Seine knallharte Kritik am Klerikalismus traf ein Kernproblem des seit Jahrhunderten abgehobenen kirchlichen Apparates. Bald erfuhr einer der höchsten Kardinäle, der Glaubenswächter Ludwig Gerhard Müller, dass Franziskus es ernst meint: Er liess sein Officium im Juni 2017 recht abrupt enden. 2023 billigte er gar, dass ein kirchliches Gericht den vormals für Heiligsprechungen zuständigen Kardinal Angelo Becciu wegen Betrugs zu einer Gefängnisstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilte. Den US-Kardinal Raymond Burke, einen seiner heftigsten Kritiker, warf er sogar aus der prunkvollen vatikanischen Wohnung. Sowas gab es noch nie. Dass Franziskus sich damit nicht nur Freunde machte, war offensichtlich. Für konservative Katholikinnen und Katholiken war der Zauber des Anfangs schon bald verflogen. Umso mehr stiegen bei reformorientierten die Erwartungen.

Eine ökologisch-spirituelle Vision für Kirche und Welt

Sein erstes Rundschreiben über das «Licht des Glaubens» – noch brüderlich vereint mit seinem Vorgänger verfasst – war hehre Pflicht (2013), doch bald folgte die Kür: seine Kernbotschaft, die er schon mit der Wahl seines Papstnamens in die Welt gesetzt hatte und nun mit den Worten aus dem Lobgesang des Franz von Assisi in der Enzyklika «Laudato sí – Gelobt seist du» festhielt (2015). Der Bruder einer bescheidenen Kirche verstand sich vor 800 Jahren in Assisi als Mitgeschöpf alles Lebendigen und der gesamten Kreatur. Sein Bruder im Geist erliess als Papst einen leidenschaftlichen Appell zum Erhalt der Schöpfung und trug – gemäss Einschätzung des britischen Astrophysikers Martin Rees von der Universität Cambridge – wesentlich dazu bei, dass ein halbes Jahr später der Pariser Klimavertrag zustande kam.

«Ich glaube, dass Franziskus [von Assisi] das Beispiel schlechthin für Achtsamkeit gegenüber dem Schwachen und für eine froh und authentisch gelebte ganzheitliche Ökologie ist» (10). «Die Armut und die Einfachheit des heiligen Franziskus waren keine bloss äusserliche Askese, sondern etwas viel Radikaleres: ein Verzicht darauf, die Wirklichkeit in einen blossen Gebrauchsgegenstand und ein Objekt der Herrschaft zu verwandeln» (11). «Nach einer Zeit irrationalen Vertrauens auf den Fortschritt und das menschliche Können … ist eine steigende Sensibilität für die Umwelt und die Pflege der Natur zu beobachten, und es wächst eine ehrliche, schmerzliche Besorgnis um das, was mit unserem Planeten geschieht» (19). Die «Klage der Armen» und die «Klage der Erde» (49) sind im Tiefsten eine Anklage der «Interessen des vergötterten Marktes» (56). «Mit der Allgegenwart des technokratischen Paradigmas und der Verherrlichung der grenzenlosen menschlichen Macht entwickelt sich in den Menschen ein Relativismus, bei dem alles irrelevant wird, das nicht den unmittelbaren eigenen Interessen dient» (122). 

Der Jesuit Bergoglio greift auf das franziskanische Erbe zurück, um heutigen Menschen eine verblüffend säkulare Gegenwartsdiagnose vor Augen zu führen und die akute ökologische Herausforderung der Menschheit ins Bewusstsein zu heben. Er hatte sich schon als Bischof an zeitkritischen philosophischen Auseinandersetzungen beteiligt und das hegemoniale Konzept im modernen nordamerikanisch-europäischen Denken beanstandet. Dies erklärt seine Stellungnahmen zu den Kriegen in der Ukraine und in Palästina sowie zur Politik der Trump-Regierung gegenüber den Flüchtlingen. Sie sind getragen von einem radikalen Pazifismus zugunsten derer, die darunter leiden. Ähnlich kritisiert er ein eurozentristisches und triumphalistisches Selbstverständnis der Kirche. Ganz anders als sein platonischer Vorgänger Benedikt XVI. will er keine Kirche, die sich aus der «bösen Welt» zurückzieht und hinter ihren frommen Mauern den Frieden sucht. Die Welt darf Christinnen und Christen nicht gleichgültig sein.

Bürgerkrieg in der Kurie

Mit seiner Kritik am vorherrschenden Wirtschaftsmodell des Kapitalismus einerseits und am weltfremden Kirchenmodell einer selbstgenügsamen Klerikerkaste andererseits nahm Bergoglio gleich zwei Übel auf die Hörner und setzte zu einem Streit an, der ihn bald überforderte. Der Predigt des Seelsorgers auf dem Papstthron an die Welt stimmten viele Kreise begeistert zu, doch über eine klare Handlungsstrategie zum Umbau der kirchlichen Strukturen verfügte ihr Oberhaupt nicht. Er blieb bei aller sozialen Aufgeschlossenheit in einer konservativen Dogmatik verwurzelt und wurde gelähmt durch den Widerstand aus den eigenen Reihen, vorab durch die Polemik kurialer Reaktionäre. «Heute erleben wir einen Bürgerkrieg in der katholischen Kirche», diagnostizierte der Vatikan-Kenner Marco Politi. Das führte in der zweiten Hälfte seines Pontifikats zu einer «entschiedenen Unentschiedenheit» (Jan-Heiner Tück), was man wohlwollend auch als Bescheidenheit deuten kann gegenüber der traditionellen Anmassung, alles besser zu wissen und kraft höchster Autorität von oben herab zu entscheiden.

Amazonassynode: Der Reformpapst verliert Glaubwürdigkeit

Nichts macht seine Unentschlossenheit deutlicher als der Umgang mit der Amazonassynode 2019. Schon nach den Familiensynoden von 2014 und 2015 wagte Franziskus nicht, den wiederverheirateten Geschiedenen in seelsorgerlicher Zuwendung die Erlaubnis zum Empfang der Kommunion zu erteilen; die notwendige Zweidrittelmehrheit der Bischöfe fehlte. Einzig in der berühmten Fussnote 351 seines nachsynodalen Schreibens hat er die harte Absage aufgeweicht. Die letzte Konsequenz freilich hat er nicht gezogen, denn «seine Predigt der Barmherzigkeit müsste ja die Unbarmherzigkeit des Römischen Systems sprengen» (Hermann Häring). Doch auch im 21. Jahrhundert kann nur ein konservativer Papst ein mächtiger Papst sein.

Die Synode der Kirchen Amazoniens war ohne Zweifel ein Herzensprojekt des Argentiniers Franziskus. Teilgenommen haben nebst den Ortsbischöfen auch Priester und Seelsorgerinnen. Das Ergebnis war sehr deutlich: Verheiratete Männer sollen zu Priestern geweiht werden, Frauen – meist aus Ordensgemeinschaften –, die 70 Prozent der Gemeinden betreuen, sollen die Diakonatsweihe erhalten. Selbst die Bischöfe sprachen sich zu über zwei Dritteln dafür aus. Doch entgegen seiner sozialen und kulturellen, ökologischen und kirchlichen Vision für eine Amazonaskirche entschied sich der Papst in seinem nachsynodalen Schreiben «Querida Amazonia» gegen diese Vorschläge, ein Schlag ins Gesicht der Amazonaskirche und all jener, die durch Synoden kirchliche Veränderungen herbeizuführen hoffen. «Eine vertane Chance und ein strategischer Fehler», urteilt Erwin Kräutler, der emeritierte Bischof von Xingu im Amazonasgebiet.

Mit diesem Schreiben vom Februar 2022 hat Franziskus den Anspruch, ein Reformpapst zu sein, bei vielen aufgeschlossenen Katholikinnen und Katholiken verwirkt. Sein poetisch-spirituell bewundernswertes Einfühlungsvermögen für eine authentische Kirche Amazoniens prallt schlagartig ab an seiner dogmatischen Fixiertheit, wenn es um strukturelle Reformen der Kirche geht. Darüber können atmosphärisch brisante Äusserungen etwa zur Homosexualität, in denen Franziskus mit der Eindeutigkeit und dem Rigorismus seiner Vorgänger gebrochen hat, ebenso wenig hinwegtäuschen wie die Rehabilitation vieler Befreiungstheologen. Der oberste Hirte wagt nicht, beim obersten Lehrer (beides ist er) Konsequenzen einzufordern, wie Michael Meier akribisch dargelegt hat (Der Papst der Enttäuschungen, Herder 2024).

Schüsse aus dem Hinterhalt

Allerdings kann in diesem Zusammenhang eine Intrige nicht verschwiegen werden. Sie macht deutlich, dass das absolutistische System der römischen Kirche zwei Päpste schlecht verträgt. Benedikt XVI. hat das Gelöbnis in seiner Demission, er werde künftig schweigen, leider nicht wirklich eingehalten, etwa indem er sich in ein Kloster im Bayerischen Wald zurückgezogen hätte. Kurze Zeit bevor Franziskus sein «Querida Amazonia» verfasste, publizierte Kurienkardinal Robert Sarah das Buch «Des profondeurs de nos cœurs». Darin sprach sich der Präfekt der Gottesdienstkongregation gegen die Postulate der Amazonas-Synode aus und plädierte für eine unbedingte Beibehaltung der Zölibatsverpflichtung der Priester. Das war mehr als ein weiteres Gefecht im Bürgerkrieg der Kurie. Denn das Buch enthielt auch einen Beitrag von Sarahs Freund Benedikt XVI. Zwar hat dessen Knecht Georg Gänswein dafür gesorgt, dass Benedikts Bild und Name vom Buchumschlag entfernt wurden. Doch die Provokation war perfekt, und ein Ja von Franziskus zu den Postulaten der Amazonas-Synode war unter solch post-papalen Interventionen kaum denkbar. Kardinal Sarah allerdings wurde entlassen und Erzbischof Georg Gänswein für einige Zeit in die (deutsche) Wüste geschickt.

Der Missbrauch in der Kirche – die Kehrseite klerikaler Macht

Eine der schwersten Krisen der römisch-katholischen Kirche der Gegenwart ist – schon viele Jahre vor dem Pontifikat von Franziskus – der sexuelle und spirituelle Missbrauch, den Kleriker an Kindern, Frauen und Männern verbrochen und den ihre Bischöfe samt der römischen Kurie allzu lange unter den Teppich gekehrt haben, um den Ruf der «Heiligkeit der Kirche» nicht zu beschädigen. Franziskus musste manchen Canossa-Gang absolvieren und als Papst deren Opfer um Vergebung bitten – in Irland, in Kanada und überall, wo er hinkam – ein unübersehbarer Anfang. Überwunden ist die Epidemie klerikaler Übergriffe gegen Schutzbefohlene damit aber keineswegs, auch Franziskus verfolgte die Sache nicht mit letzter Konsequenz. Bischöfe, die in ihrem Amt – gegen frühere römische Direktiven – konsequent jeglichen Missbrauch bestraft haben, muss man mit der Lupe suchen.

Machtmissbrauch steckt in der DNA der Kirche (Bischof Wilmer, Hildesheim). Es mutet seltsam an, dass eine Kirche, die über Jahrhunderte verwegen gegen Aufklärung und Religionskritik gekämpft hat, in der Auseinandersetzung mit den destruktiven Kräften in ihrem Innern so unfähig ist und wie gelähmt erscheint. In der Öffentlichkeit ist das Bild der Kirche von diesem Unvermögen geradezu paralysiert: vom sexuellen Missbrauch, von der Schonung der Täter und von der Missachtung der Opfer.

In der kurialen Atmosphäre von Narzissmus, Intrigen und Untertänigkeit ist dieses Versagen besonders ausgeprägt. Männerbünde und Selbstüberschätzung, Frauenphobie und Geheimniskrämerei, Selbstsakralisierung und Verrechtlichung, Traditionalismus und überbordende Glorifizierung: Welcher CEO vermöchte ein solches Unternehmen in den Senkel zu stellen? Wie wollte eine derartige Institution sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen? Nicht umsonst zweifeln viele an der Reformierbarkeit dieser Kirche.

Am Ende hat auch Franziskus von der wahren Verantwortung abgelenkt mit der mythischen Aussage, beim Missbrauch durch Kleriker werde «eine gottgeweihte Person zum Werkzeug Satans». Trotzdem: Ein einfühlsamer Blick zuallererst auf die Opfer, eine konsequente Entlassung der Täter und ihre Strafverfolgung durch die weltliche Justiz sind Wege vorwärts, wo sie wirklich praktiziert werden. Folgen müssten Begrenzungen der Amtsgewalt und eine strukturelle Machtbalance, niederschwellige Beschwerdestellen, ein Ende selbstherrlicher Alleinentscheidungen und nicht zuletzt «der Rücktritt aller Bischöfe und Kardinäle, die von Missbräuchen gewusst und nicht gehandelt haben» (Hubert Wolf, Kirchenhistoriker).

Die heillose Überforderung kirchlicher Amtsträger

Bei alledem darf man nicht übersehen: Ein Papstamt, das sich als Gipfel und Monopol gesetzgeberischer, ausführender und richterlicher Gewalt in der Kirche versteht, ist Teil des Problems und nicht der Lösung. Daran wagt Franziskus nicht zu rütteln: «Die heillose Selbstüberschätzung des Amtes führt zur heillosen Überforderung seiner Amtsträger» (Hermann Häring). Unter vielen katholischen Theologinnen und Theologen ist darum unbestritten, dass eine grundlegende Revision dieser Machtkumulation unumgänglich ist. Doch eine Korrektur des im Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) definierten kirchlichen Herrschaftssystems und eine Neubegründung auf biblischer Grundlage und im Geist der Synodalität wird selbst ein weiteres Konzil kaum schaffen – auch wenn Kirchenhistoriker begründete Zweifel an der Freiheit und damit an der Gültigkeit der Beschlüsse jenes Konzils äussern. Noch ist es gewissermassen eine katholische Krankheit, auf den nächsten Papst zu hoffen. Doch endlos werden die Gläubigen nicht warten, viele ziehen schon jetzt den Exodus vor. Irgendwann ist das Spiel von Ankündigung, Hoffnung und Enttäuschung ausgespielt und eine Implosion des Systems nicht mehr auszuschliessen.

Die Strukturen der katholischen Kirche haben ihre Wurzeln in der europäischen Geschichte. Jeder Umbau muss jedoch vor Augen halten, dass eine Kirche mit weit über einer Milliarde Gläubigen auf fünf Kontinenten noch ganz anderen Massstäben genügen muss, als sie Europa je denken konnte. Franziskus wusste das, aber er wusste auch, dass er die europäischen Wurzeln nicht abschneiden kann. Und er hatte – wie jeder Papst – die lähmende Drohung der Ewig-Gestrigen im Nacken, dass sie sich abspalten und so den Ruf des obersten Brückenbauers für alle Zeit beschädigen würden. Erzbischof Lefebvre hat es nach dem Konzil vorexerziert.

Synodalität als Chance

Die letzte grosse Herausforderung, die Franziskus sich vorgenommen hat, ist die Revitalisierung eines alten kirchlichen Strukturprinzips, der Synodalität. Schon die Apostel kamen in Jerusalem zusammen, um zu beraten, welche Vorschriften des jüdischen Glaubens – Jesus war ein Jude – die Christus-Gläubigen erfüllen müssten. Paulus drang durch mit dem Begehren, dass die Beschneidung nicht dazu gehöre. Nach dem Vorbild dieses «Apostelkonzils» hielten Teilkirchen ihre Synoden ab, also Zusammenkünfte der Kirchenverantwortlichen. Seit dem 4. Jahrhundert kennen wir die Allgemeinen Konzilien, welche Beschlüsse für die gesamte Kirche fassen. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) war das 21. Konzil dieser Art. Schon dieses letzte Konzil hat die Synodalität wieder neu betont, um der starr hierarchischen Ordnung das Prinzip der Mitverantwortung des ganzen «Volkes Gottes», also aller Getauften, gegenüberzustellen. Es war im Ansatz der Versuch, das überkommene Kirchenbild der Machtpyramide zu überwinden durch ein in der kirchlichen Tradition gut verankertes Modell der Kirche als weiter Kreis: als Netzwerk von Glaubenden, in dem Verantwortung im Dialog aller mit allen gemeinschaftlich getragen wird, moderiert von einer einvernehmlichen Autorität, die nicht zu diktieren braucht. 

Franziskus hat diese Traditionslinie schon in Lateinamerika erprobt und in der Amazonas-Synode auch in Rom praktiziert. Die Weltsynode 2021–2024 hat er explizit auf das Thema Synodalität verpflichtet. Die katholische Kirche in Deutschland sah ihrerseits in synodalen Strukturen eine Antwort auf den Missbrauchsskandal, weil sie erkannte, dass hierarchische Strukturen den Missbrauch begünstigen. Mit ihrem «Synodalen Weg» haben Bischöfe, Priester und Laien Deutschlands in den Jahren 2019–2023 gemeinsam die Weltsynode vorgespurt. In fünf Sitzungen packten sie vier zentrale Themen des Reformprozesses an und verabschiedeten Beschlusspapiere über Macht, Sexualmoral, die Rolle der Frau und die priesterliche Lebensform. Der Widerstand aus Rom war heftig und entzündete sich vor allem am neu beschlossenen «Synodalen Rat». Dieses gemeinsame Leitungsgremium aus Bischöfen und Laien untergrabe die Autorität der Bischöfe. Dass Franziskus sich dem Widerstand anschloss, zeigt, dass auch er ein Gefangener des von ihm gegeisselten Erwähltheitskomplexes des Männer-Klerus geblieben ist.

Das Bild der Synodensitzungen, zuletzt im Herbst 2024, war eine vage Vision für die Zukunft: Die Aula der Weltsynode war ausgestattet mit lauter runden Tischen. Da sassen Bischöfe und Laien, Frauen und Männer, Kardinäle und Priester reihum und diskutierten auf Augenhöhe miteinander, niemand kehrte den andern den Rücken zu. Und die Mehrheit der Synodentische wurden von Frauen moderiert. Ein Sitzungsmodell aus der asiatischen Kirche – gelebte Utopie von Katholizität im Herzen des Vatikans. «Eppur si muove – Und sie bewegt sich doch!» möchte man mit Galileo Galilei ausrufen. Die Schlussfolgerungen dieser Synode sind bemerkenswert. Der Synodale Weg der deutschen Kirche wurde in der Sache bestätigt. Und doch: Dort, wo es um Autorität und Macht in der Kirche ging, entschied Franziskus – allen Frauenprotesten zum Trotz – beinhart. Wie schon nach der Amazonas-Synode verdunkelt dieser Schatten sein Pontifikat. Er ist weit hinter den Erwartungen, die er geschürt hat, zurückgeblieben.

Ein ökumenischer Versuchsballon

Die fehlende Heiterkeit der Grosswetterlage lässt wohl auch den Versuchsballon kaum aufsteigen, den Franziskus im Sommer 2024 im Geist einer synodalen Kirchenverfassung hat starten lassen. Anknüpfend an sein Selbstverständnis als Bischof von Rom und als Vermittler synodaler Prozesse in Kirche und Ökumene hat er seinen Ökumeneminister Kurt Koch den Ansatz zu einer neuen Auseinandersetzung über Primat und Synodalität publizieren lassen, das theologische Arbeitspapier «Der Bischof von Rom». Es ist gewachsen aus dem Dialog der letzten Jahrzehnte mit verschiedenen christlichen Kirchen. Weil gemäss Johannes Paul II. das Papsttum das grösste Hindernis der Ökumene darstellt, soll das absolutistische Verständnis des Primats überwunden und integriert werden in ein Konzept des Papsttums, das gemäss dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Kirche primär nicht als Hierarchie, sondern als Gemeinschaft sieht. Ein solcher «Ehrenprimat» – oder besser: eine anerkannte moralische, aber nicht direktive Autorität – wäre ökumenisch besser verträglich und für die Stellung der Christen in der Welt ohne Zweifel eine Chance. Ob die Traditionalisten zugestehen können, «dass die Führung der Kirche durch den Heiligen Geist nicht beim Ersten Vatikanum Halt gemacht hat», wie ihnen Kurt Koch spitz entgegenhielt, ist zu bezweifeln.

Ein Papst, der Räume geöffnet hat

Franziskus wird nicht als Reformpapst in die Geschichte eingehen. Doch mit seiner ersten Amtshandlung – seiner Bitte an die Gläubigen auf dem Petersplatz um den Segen für ihn, den neuen Bischof von Rom – hat er die Sache vielleicht entschiedener auf den Kopf gestellt als mit jeder Kirchenreform. Er war ein Aufrüttler, einer, der unbequeme Fragen gestellt hat und neue Wege gegangen ist. Einer, der gerade darum zukunftsweisend für den Petrusdienst ist, weil er nicht versuchte, offene Fragen von oben herab ein für alle Mal zu beantworten. So hat er in der katholischen Kirche vieles angestossen, Räume geöffnet und ein gehöriges Mass an Unruhe zugelassen. An den Universitäten dürfen kontroverse Themen wieder offen angepackt werden. Die Frage nach der Stellung der Frau in der katholischen Kirche wird Bischöfe und Theologen auch künftig nicht in Ruhe lassen. Die Spannungen zwischen dem alten Zentrum der Kirche in Europa und lebendigen Kirchen in Lateinamerika, Afrika und Asien werden neue Sichtweisen des Christlichen ins Zentrum rücken. Und niemanden wird überraschen, dass einem grossen System vielfältige Widersprüche nicht erspart bleiben.

Franziskus übergibt seinem Nachfolger ein aufgewühltes Erbe. Die Mehrheit der Kardinäle, die ihn wählen werden, ist freilich von Franziskus erkoren worden. Es könnte also einer kommen, der die Impulse von Franziskus in Lehre, Recht und Verfassung der Kirche verankert – doch das ist nicht nur aus römischer Sicht ein ganz und gar verwegener Gedanke, sondern auch angesichts des konservativen Profils der neuen Kardinäle. Und selbst dann müsste man Zeugen des letzten Konzils in Erinnerung rufen: «Es wird noch lange dauern, bis die Kirche, der ein Zweites Vatikanisches Konzil von Gott geschenkt wurde, die Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils sein wird» (Karl Rahner nach dem Abschluss des Konzils 1965). Und den Spruch des früheren Generalsekretärs Jens Stoltenberg über die Nato hätte Franziskus vermutlich auch seiner Kurie zugemutet: «Eine Institution zu verändern ist so, als versuche man, einen Friedhof zu verlegen. Die Leute, die da sind, sind keine grosse Hilfe.» Der Entscheid von Franziskus, nicht im Vatikan bestattet zu werden, sondern in der Kirche Santa Maria Maggiore – auf der anderen Seite des Tibers –, ist so gesehen ein letzter Protest.

Franziskus blieb ein Fremder im Vatikan. Doch in Wahrheit war vielleicht nicht er der Fremde, sondern jene, die sich vom Wanderprediger aus Nazareth weit, weit entfernt haben und stets Gefahr laufen, seine Botschaft von einem menschenfreundlichen Gott in die Herrschaft eines menschenunfreundlichen Systems zu verkehren. Als Amtsträger hat Franziskus darunter gelitten, als Seelsorger, der er geblieben ist, sah er in vielen Gemeinschaften und Bewegungen an der Kirchenbasis einen lebendigen Glauben und starke Hoffnungen am Werk. Er mag sich mit Franz von Assisi getröstet haben: Auch jener hat umsonst versucht, die päpstliche Kurie «den Fussspuren des armen und demütigen Rabbi» folgen zu lassen.

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