Direkt zum Inhalt
  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
Kuriositäten

Ein Käser und seine grosse Idee

23. Mai 2025
Rolf App
Erdrelief
Melchior Dönnis zweites Erdrelief, 1902
Bild: Schweizerisches Bundesarchiv

Um 1900 beschreibt der Luzerner Melchior Dönni die Erde als flache Scheibe und bemüht sich um ein Patent – das ihm vermutlich Albert Einstein erteilt. Doch wie kommt der Mann auf sein eigenwilliges Bild der Erde?

Die Geschichte fängt an mit einem erstaunlichen Fund. Auf der Suche nach einem geeigneten Objekt für die Social-Media-Kanäle des Hauses stösst der Journalist und Historiker Urs Hafner im Keller des Schweizerischen Bundesarchivs auf eine Schachtel aus massivem Karton. Sie enthält ein buntes Relief, dem einige Broschüren beigegeben sind. Das Relief zeigt eine flache Erde, in der weiss bemalten Mitte (dem Nordpol) steckt ein Schweizerfähnchen. Die Broschüren, alle um 1900 verfasst, erklären, worum es geht. Da präsentiert und begründet ein gewisser Melchior Dönni aus Luzern seine Theorie, dass die Erde eine Scheibe ist und keine Kugel – und knüpft eine abenteuerliche Vorstellung vom Werden und Vergehen im Universum daran. Wer ist dieser Mann?, fragt Hafner sich. Wie kommt er auf seine Idee, und was löst er damit aus? Und schliesslich: Wie ist die Schachtel mit seinem Modell ins Bundesarchiv gelangt?

Er forscht nach, verfasst kurz nach der Corona-Pandemie einen Text für die «NZZ am Sonntag», der wegen der vielen in dieser Zeit kursierenden Verschwörungstheorien einige Beachtung findet. Er bekommt einen Brief von Melchior Dönnis Enkel. Der beklagt sich über den herablassenden Ton seines Zeitungsartikels, stellt aber Material bereit und gibt ihm die Adresse eines Urenkels. So erfährt er mehr über diesen schmächtigen Käser. So viel, dass daraus jetzt ein ziemlich ergiebiges Buch geworden ist. Das allerdings auch nicht alle Fragen beantwortet. Dönni ist und bleibt ein grosses Rätsel, so wenig wollen bürgerliches Leben und kosmologisches Interesse zueinander passen. 

Der erfolgreiche Unternehmer

Melchior Dönni wird am 13. Januar 1842 in Luzern geboren. Seine Familie kommt vom Land, der Beruf des Käsers wird ebenso von Generation zu Generation weitergegeben wie der Vorname Melchior. Er erlernt den Beruf des Milchhändlers, 1876 heiratet er ein erstes Mal, seine Frau stirbt schon im Jahr darauf nach der Geburt einer Tochter am Kindbettfieber. 1880 heiratet er erneut, seine zweite Frau wird sieben Kinder zur Welt bringen. Beruflich hat Dönni rasch Erfolg. Im aufstrebenden Wey-Quartier, das vor allem bei den Touristen beliebt ist, führt er zusammen mit seiner Frau den «Nidlenpalast», eine weitherum bekannte Käserei mit sogenanntem Milch- und Kaffeehaus, wo Leckereien aus Rahm und Milch verkauft werden.

Melchior Dönni
Melchior Dönni mit Ehefrau und fünf ihrer Kinder, um 1900
Bild: Privatbesitz

Luzern wächst in dieser Zeit rasant, die Stadt ist eine Tourismuspionierin. Davon profitiert Melchior Dönnis Geschäft. Und von seiner technischen Aufgeschlossenheit. Als 1880 die Milchzentrifuge aufkommt, greift er sofort zu. Und wird damit zum führenden Molkereibesitzer und Milchverarbeiter im Kanton Luzern. Dann, 1891, verpachtet der 49-Jährige sein florierendes Geschäft – und macht den Schritt sechs Jahre später wieder rückgängig. Warum? Urs Hafner hat eine Vermutung: «Kurz bevor er mit seiner Theorie der Scheibenerde an die Öffentlichkeit geht, steigt er wieder ins Geschäftsleben ein. Vielleicht gibt ihm dies den nötigen Halt für den riskanten intellektuellen Schritt.»

Was für eine flache Erde spricht

«Wie sich ein Ungelehrter das Weltall denkt» nennt Melchior Dönni seine erste, um 1899 erschienene Publikation und unterzeichnet sie nur mit seinen Initialen. Am Anfang entwirft er eine Kreislauftheorie: Wie jedes Lebewesen entsteht und vergeht, die Kuh ebenso wie die Blume, so tut dies auch die Erde. «Die Erde wird, zuerst ein Nichts, dann klein, jetzt dem Zustande der vollkommenen Bildung nahe, in Millionen Jahren als brennbarer Stern und wieder in Millionen Jahren den Zerfall in Nichts durchzumachen haben», schreibt er. Dönni geht dabei davon aus, dass diese Erde ursprünglich weiter entfernt war von der Sonne als heute. Und dass sie durch den Beschuss fremder Steine gewachsen sei. Dies alles geschehe «durch die Allmacht und Güte Gottes». 

Dann folgt Dönnis zentrale Idee: Die Erde steht, die Sonne umkreist ihre Oberfläche einmal im Tag. Diese Oberfläche ist flach. Warum ist das so? Wasser läuft immer der Tiefe zu, also kann die Erde nicht rund sein – sonst würde sich alles Wasser ja am tiefsten Punkt treffen. Dafür, dass dieses Wasser nicht von der Erdscheibe abfliesse, sorgt ein riesiger Eiswall an den Rändern. 

Nun begründen Anhänger der Kugelgestalt ihre Ansicht damit, dass man im Meer von weit entfernten Schiffen nur noch die Masten sieht. Dönni entgegnet, dies habe mit der Verschmutzung der Luft in den tieferen Schichten zu tun. Schliesslich, erklärt er: Würde sich die Erde bewegen, müsste sie irgendwann zurückfallen an den ursprünglichen Ort – wie eine Kugel, die man in die Luft wirft.

Ein exzentrischer Brite und seine Ideen

Melchior Dönni «beharrt auf dem Offensichtlichen und gewichtet die Alltagserfahrung höher als die Theorien und Berechnungen der Gelehrten und Wissenschaftler», fasst Urs Hafner sein Gedankengebäude zusammen. Gegen diese Wissenschaftler hat der Luzerner Käser nichts, er hält ihre Theorien nur für falsch. Er sieht auch keine Verschwörung am Werk, die den Menschen die Wahrheit vorenthalten würde.

Doch woher hat er seine Ideen, die er noch in weiteren Broschüren ausführen wird – und im Relief, auf das Urs Hafner im Keller des Bundesarchivs gestossen ist. Drei Jahrzehnte lang habe er sich mit dem Thema befasst, erklärt Dönni selbst um die Jahrhundertwende. Dreissig Jahre zuvor hat am schnurgeraden Bedford-Kanal in England eine Wette stattgefunden, bei der die Anhänger der Scheibenerde unterlagen und über die die «Luzerner Zeitung» berichtet hat. Dort hat ein exzentrischer Brite namens Samuel Birley Rowbotham der Propagierung der Scheibenerde sein Leben gewidmet; seine Bücher finden Widerhall quer durch Europa. Sie sind zwar weder in Dönnis Haus noch in den Luzerner Bibliotheken der Zeit auffindbar. Aber einzelne seiner Formulierungen weisen darauf hin, dass er Rowbothams Ideen kennt.      

Von Albert Einstein begutachtet

Mit seinen Publikationen geht Melchior Dönni ein grosses Risiko ein. Gut möglich, dass er sich in der Luzerner Gesellschaft lächerlich macht. Doch nichts passiert. Das Echo ist gleich null, Urs Hafner findet keinen einzigen Zeitungsartikel, der sich mit einer seiner Broschüren befasst. Doch der Mann gibt keine Ruhe. Im September 1902 schickt er ein Paket ans Eidgenössische Patentamt in Bern, darin eingepackt die von ihm selbst gebaute Erdscheibe. Rote Kreise zeigen den Lauf der Sonne an, mitten im Nordpol, der im Zentrum steht, steckt ein rotweiss bemalter Nagel mit einem neckischen Schweizerfähnchen. Dort kommt es möglicherweise in später sehr berühmte Hände. Denn, schreibt Hafner, «wahrscheinlich wird Dönnis Patentgesuch von Albert Einstein bearbeitet». Seit kurzem ist der junge Physiker im Patentamt in Bern tätig, und «die mehr oder weniger pragmatischen, verblüffenden, verrückten Erfindungen, die er zu begutachten hat und ins Patentregister einzutragen hat, treiben sein Denken an».

Am 24.September 1902 patentiert das Patentamt Dönnis Erfindung, zwei Jahre später – er hat gerade die letzte seiner Broschüren verfasst – verstaut er seine Materialien in einer hölzernen Truhe. Seine florierende Molkerei übergibt der 62-jährige Käser seinem Sohn Melchior, den er aber weiter kontrollieren will. Ein Zerwürfnis folgt, darauf mehrjährige Streitereien vor Gericht. 1913 setzt er seine «Letztwillige Verfügung» auf, in der er den ältesten Sohn enterbt, drei Jahre später erhängt er sich in der Wohnung seines Hauses, «im Zustande von Geistesstörung», wie der ärztliche Bericht vermerkt.    

Urs Hafner: Dönnis Erdscheibe. Ein Käser und seine Welt. Chronos-Verlag, Zürich 2025, 151 Seiten

Letzte Artikel

Wie die Deutschen die Bombe verpassten

Rolf App 20. Juni 2025

Will Ali Khamenei als Märtyrer sterben?

Ali Sadrzadeh 19. Juni 2025

Trump zögert (noch)

Heiner Hug 19. Juni 2025

Himmelsräume und Wassertiefen

Niklaus Oberholzer 18. Juni 2025

Irans Strategie und der Krieg

Erich Gysling 18. Juni 2025

Die Schweiz: Vorreiterin und Bändigerin

Gret Haller 18. Juni 2025

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Zurück zur Startseite
Leserbrief schreiben
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.